Auch in der zweiten Jahreshälfte habe ich wieder mehr über Lärm gelernt. Mit einer Kollegin und einem Kollegen aus dem Vorstand der Lärmliga Schweiz und einer Ärztin für Umweltschutz habe ich weiter für mehr Ruhe gekämpft.
Im letzten Halbjahr sind drei Beiträge im Leiser_Blog erschienen, die das weit verbreitete Unverständnis über das zweitgrösste Gesundheitsrisiko Europas nur noch unglaublicher machen. Dabei führt Lärm zu Beispiel zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie sind jedes Jahr bei über 20'000 Menschen in der Schweiz die Todesursache. Das ist – noch vor den Krebserkrankungen – Platz eins.
Urtümliche Stressreaktion auf moderne Krachmacher hat fatale Folgen
Fachärztin Ottilia Lütolf Elsener schreibt über menschliche Stressreaktionen auf Lärm wie aus der Steinzeit. Die ausgeschütteten Stresshormone steigern die Atem- und Herzfrequenz, um die für die Flucht wichtigen Organe, Gehirn und die Muskulatur, maximal mit Sauerstoff zu versorgen.
Als Notreaktion ist dieser Mechanismus lebensrettend. Chronisch wiederholte Stressreaktionen schädigen hingegen die Gefässe aller Organe. Jedes Jahr sterben 500 Menschen in der Schweiz an einem Lärm induzierten akuten Herzinfarkt. Lärm führt auch zu Bluthochdruck oder Diabetes – er macht Menschen also weniger leistungsfähig und vulnerabler. Nicht zu vergessen: Lärm erhöht auch das Demenz-Risiko.
Tempo 30 nimmt Fahrt auf
Umweltanwalt Martin Looser kennt sich aus bei Tempo 30 als Massnahme zur Lärmverminderung. Tatsächlich ist Tempo 30 eine nachhaltig wirksame und kostengünstige Massnahme gegen Strassenlärm – und eine, die sich rasch umsetzen lässt.
Die bloss scheinbare Geschwindigkeit bei der Umsetzung von Temporeduktionen überrascht heute viele. Einsprachen vergeuden aber oft Jahre, in denen Betroffene ungeschützt bleiben. Dabei ist der Lärmschutz bereits seit 1987 «verordnet». Kantone und Gemeinden haben es über 30 Jahre lang verschlafen, Massnahmen zu treffen: 2018 lief die Sanierungsfrist ab. Jetzt läuft die Galgenfrist.
Bitte lächeln, obwohl es nichts zu lachen gibt
In diesen mehr als 30 Jahren haben Kantone und Gemeinden nicht nur ihre Strasse nicht leiser gemacht. In den letzten Jahrzehnten sind die Fahrzeuge auch immer mehr, grösser, schwerer und lauter geworden. Naturärztin Nicole Esther Baumann schreibt in ihrem Beitrag über zwei Möglichkeiten, die besonders und unnötig Lauten zu erwischen.
Wie umstritten zum Beispiel Lärmblitzer in der Politik sind, zeigt ein Beispiel aus dem Kanton Baselland. Anfang 2020 hat sich das Kantonsparlament knapp mit 42 zu 41 Stimmen gegen die Anschaffung dieses Messinstruments ausgesprochen.
Strassenlärm macht unsolidarisch
In der Schweiz sind 1,1 Millionen Menschen von übermässigem Strassenlärm gefährdet. Von den jährlichen Kosten des Verkehrslärms von 2,7 Milliarden Franken gehen 80 Prozent auf die Kappe des Strassenverkehrs. Bezahlen tun das die Betroffenen und die Öffentlichkeit, aber nicht die Verursacher.
Zöge ich jeden Tag mit 80 oder 100 Dezibel Musik aus meiner Boombox durch die Gassen, wäre ich vermutlich schon lange weggesperrt worden – erst recht, wenn Hits von Rick Astley oder Kylie Minogue aus der Box dröhnten, die irgendwie an meinem Herzen hängen geblieben sind. Vielleicht würde es mit den Pet Shop Boys ein paar Tage länger dauern.
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