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AutorenbildDr. Wolf

Alles viel grösser

In den letzten Wochen bin ich nochmals in den Sommer geraten, obwohl es inzwischen kalt und dunkel ist, obwohl nichts mehr sexy sein sollte. Einen Sommer im November kann ich mir eigentlich nicht leisten. Ich muss trotzdem in die Verlängerung.


Eine Sofortmassnahme traf ich letzten Mittwoch. Am Tag zuvor schaute ich mir an, wie es mir im Sommer ging. Ich stellte fest: Kann ich immer noch unterschreiben. Also kehrte ich wieder zurück an den Ort, der im richtigen Sommer geholfen hatte, das Beste aus ihm zu machen.


Das vergessene Gebet


Auch das Bruder-Klaus-Gebet tauchte wieder auf. Ich hatte es zwischenzeitlich abgesetzt. Hätte ich nicht tun sollen.

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir.
Bruder Klaus *1417 † 1487

Vielleicht hätte das Gebet den Rückfall im November verhindert. Ein Rückfall, der vor allem die anstrengenden Seiten des Sommers zurückbrachte. Die Aspekte, denen ich aus dem Weg gehe, wenn sie auf mich zukommen – irgendwie drücke ich mich davor, klarer zu sehen.



Die Formel für die wahre Liebe


Teil der Rückkehr auf den Einsiedler Kreuzweg zur monumentalen Darstellung der Kreuzigungszene ist auch der Spruch «Liebe und Verbundenheit machen Hingabe möglich». Er beschreibt die verbindende Liebe – die wahre Liebe.


Wohl um den Schock der Spiritualität zu überwinden, kommt mir der Spruch wie eine Formel vor, ähnlich dem Prozentrechnen, also W = p x G / 100. Es braucht nur zwei davon, um das Dritte auszurechnen, den scheinbar fehlenden Wert sichtbar zu machen.


Liebe und Verbundenheit machen Hingabe möglich.
Hingabe und Liebe machen Verbundenheit möglich.
Verbundenheit und Hingabe machen Liebe möglich.

So richtig traue ich dieser Schlussfolgerung aber nicht. Überhaupt funkt mir Misstrauen immer wieder in die Formel rein. Das fehlende Vertrauen, dass ich gut genug bin für andere, in Wechselwirkung mit dem Zweifel, ob andere gut genug sind für mich. Das eine schmerzt, das andere macht wütend – beides ist nicht gut, beides ist nicht nötig.


Der Weg zum Glück


Ein Weg, dem Schmerz und der Wut zu entrinnen, ist die Verbindung zu einem Menschen zu unterbrechen, für den man vielleicht nicht gut genug oder der vielleicht nicht gut genug für einen ist – also der Liebe aus dem Weg gehen, auf die Hingabe verzichten und die Gleichgültigkeit einleiten. So wirklich glücklich macht das nicht.



Der andere Weg ist, das Vertrauen als gesetzt zu sehen – wie die Hundert beim Prozentrechnen. Blöd nur, wenn man damit nicht immer gut gefahren ist. Gescheit aber, wenn es ja meistens funktioniert hat.


Mein fehlendes Vertrauen ist wahrscheinlich ein altes Muster. Das Gute daran: Wenn es am eigenen Muster liegt, lassen sich Schmerz und Wut auch selber vermeiden – dann wird der Weg frei, die Liebe anzunehmen, die Verbundenheit zu fördern und sich hinzugeben. Dann ist es möglich, so gut für andere zu sein, dass sie gut für einen sind.


Der nervende Zweifel


Wenn sich der Zweifel trotzdem einschleicht, helfen akut erstmal Geduld und Ablenkung mit anderen Prioritäten. Wenn beides nicht mehr wirkt, braucht's die Aufforderung zum Tanzen, bevor der Zweifel chronisch wird. Besonders viel Mut braucht es dazu eigentlich nicht, weil wahre Liebe null Risiko für (dauerhaften) Schmerz oder (endlose) Wut in sich birgt.



Der nötige Luxus


Weil mir das mit dem Rückfall langsam zu kompliziert wird und ich mir diesen Gefühlsluxus eigentlich nicht leisten kann, mir mein Jahreshoroskop aber dessen Notwendigkeit sowohl im echten Sommer als auch in seiner Novemberausgabe bestätigt, muss jetzt was laufen mit diesem Vertrauen.


Natürlich hat meine Gefühlslage mit konkreten Beziehungen zu realen Menschen zu tun. Zwei davon stehen gerade im Vordergrund – dort wo ein Erster immer steht, ohne sich vorzudrängeln. Einem Vierten, der mit dem Ganzen im Hintergrund zu tun hat, gab ich mich vor langer Zeit hin. Leider verbog ich mich für ihn, obwohl er das nicht verlangte, und ich wollte ihn ändern, obwohl mir seine Prioritäten bekannt waren. Es ging schief.


Es kommt mir gerade vor, als ob ich seither im Kreis gelaufen bin – durchaus spannend, durchaus gut, durchaus anstrengend. Und natürlich läuft mir jetzt ein Gedicht über den Weg, das ganz gut zum bereits vorhandenen Zermonienbesteck passt.

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin
Thomas Brasch *1945 † 2001 über den Weg gelaufen mit dem Lied Bleiben von Masha Qrella


Die sexy Ehrlichkeit


Die Beziehungen meiner Gegenwart und Zukunft, die guttun, will ich nicht (mehr) mit alten Mustern verkacken, die gar nicht (mehr) zu mir passen. Dazu bleibt zuwenig Leben übrig. Was hingegen in Hülle und Fülle bleibt: Mich ehrlich und wirklich zu zeigen bei der Aufforderung zum Tanzen. Eigentlich hat das schon immer recht gut funktioniert.



Das wahrhaftige Sonntagskind


Irgendwie geht mir mein Gejammer um das fehlende Vertrauen auf den Geist. Es könnte durchaus ein Vorwand sein, um ein Defizit nicht zuzugeben, das noch immer an mir haftet.


Denn alle meine Liebesbeziehungen tun gut, weil mich die anderen so lassen und so lieben, wie ich bin. Trotzdem passiert es mir machmal, dass ich das im umgekehrten Fall nicht tue – obwohl ich weiss, dass es dann schief geht. Immerhin: Ich sehe inzwischen klarer, woher ich das habe.


Krass eigentlich, welches Glück ich habe, dass mir die Menschen, die mich lieben und mir guttun, sogar dieses Defizit nicht übel nehmen. Das Glück eines Sonntagskinds, das ich wirklich bin. Das Glück der wahren Liebe.



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