Mein Märchen ist seit zehn Jahren volljährig. Vor 28 Jahren entsprang «Der Eisbär» via Kopf und Herz aus meinen Fingern. Seither hat der Eisbär zwar nicht geschlafen, wacht aber trotzdem gerade auf.
Am Ende von Teil fünf hatte sich der Eisbär ein neues Haus gebaut. Das lenkte ihn von Gedanken ab, die ihn nicht weiterbrachten. «Das Haus ist schön geworden», sagten ihm die anderen beim Vorbeiziehen, wenn er gerade davor herumlungerte. Auch er selbst war rundum glücklich mit dem Zuhause, das er sich aufgebaut hatte.
Weil der Eisbär nach seiner Rückkehr vor 28 Jahren auf seinen früheren «Königstatus» verzichtete, musste er sich seither selbst um sein Einkommen kümmern. So baute er sein Haus gross genug, um Reha-Plätze für andere Eisbären anzubieten, die sich in der nahe gelegenen Eisbären-Klinik mit psychiatrischer Abteilung behandeln liessen. Mit einem davon teilte er inzwischen sein Leben.
Das mit den Reha-Gästen funktionierte lange recht gut, wurde aber in letzter Zeit problematisch. Denn immer mehr Klinikangestellte warfen den Bettel wegen schlechter Arbeitsbedingungen hin. Deshalb erhielten immer weniger Eisbären einen Platz – und wer einen hatte, wurde schlecht behandelt.
Weil dadurch sowohl die Zahl der anreisenden Eisbären als auch der Ruf der Klinik sanken, fehlten auch dem Water B'n'B auf dem Meeresgrund die Gäste. Der Eisbär musste also umdenken.
Als er so dachte und dachte, erinnerte er sich an seine Reise an der Erdoberfläche vor 28 Jahren. Zwar kam ihm noch immer nicht in den Sinn, was ihn damals plagte. Aber die Gefühle von früher bewegten ihn, wieder eine Reise zu planen. Schliesslich waren seine Reserven trotz Gästemangellage ordentlich.
Anders als seine Hausbank, die inzwischen Konkurs gegangen war, hatte er nämlich mit seinen früheren Gewinnen Reserven angelegt. So musste er jetzt dem Reich auf dem Grund des runden Meeres nicht auf der Tasche liegen und konnte seinen neuen Plan schmieden.
So richtig weit kam er mit dem Plan allerdings nicht. Denn seine Ungeduld plagte ihn. Er wollte sich endlich wieder auf die Tatzen machen, statt rumsitzend rumzudenken, was sein könnte ohne wirklich zu sein. Dabei kam ihm der nette Braunbären-Kellner in den Sinn, der ihm vor 28 Jahren den Weg zur Eisbären-Klinik mit psychiatrischer Abteilung zeigte.
Damit war klar: Seine Reise würde erstmal nach Kenya führen. Zum Glück war sein Mit-Eisbär bereit, ihn ziehen zu lassen. Der musste sich ohnehin keine Sorgen machen, weil ihm die Liebe des Eisbären gewiss war.
So packte der Eisbär seine sieben Sachen, schnallte sich seine Flossen aus recycletem Plastik und fairer Produktion um und tauchte auf zur glitzernden Wasseroberfläche des runden Meeres.
Das ist der Anfang der neuen Staffel 2023 des ursprünglichen Märchens von 1995. Was in der ersten Staffel vor 28 Jahren geschah, gibt es in Teil eins bis fünf zu lesen. Und wie es weitergeht, steht schon bald in Teil sieben geschrieben.
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