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Der Schwule in mir

Vor einem Jahr herrschte noch das Corona-Regime in der Schweiz. Damals gab es Parallelen beim Umgang der Menschen miteinander zum Ausbruch von Aids. Mich persönlich erinnert der heutige Welt-Aids-Tag daran, dass HIV seit meiner Jugend eng mit meinem Leben verbunden ist.


Während die Betroffenheit zum Beispiel im südlichen Afrika mit 25,5 Millionen Infizierten besonders hoch ist, lässt es sich mit den richtigen Medikamenten in der Schweiz inzwischen gut mit HIV leben. Auch bei der Prävention ist längst nicht mehr das Kondom der Verkaufsschlager, sondern PrEP, ein Medikament in Tablettenform.



Ohne viel darüber zu wissen, bin ich der medikamentösen Schutzvariante gegenüber skeptisch eingestellt und setze konservativ auf das Kondom. Ich will keine starken Medikamente nehmen, nur um bei einem eventuellen ONS* oder bei ebenso eventuellem NSA** Fun auf den Gummi verzichten zu können.


*ONS: one night stand flüchtiges sexuelles Abenteuer für eine Nacht
**NSA: no strings attached an keine Bedingungen gekoppelt

Mit der Seuche verbunden


Aids hängt seit meiner Pubertät mit meinem Leben zusammen. HIV steht nach wie vor im Vordergrund der Ängste, obwohl sich die Ansteckung mit Hepatitis-B (Impfung vorhanden) oder Syphillis (Früherkennung wichtig) – bei beiden genügt ein Kuss – viel schwieriger verhindern lässt, als bei HIV mit einem Pariser.


Die paar Male, bei denen ich mich nicht an mein Kondom-Prinzip hielt, bereute ich es meistens. Die drei Monate bis zum HIV-Test waren definitiv eingschränkender als das Kondom, das für vergleichweise kurze Zeit im Einsatz war.


Inzwischen ist eine HIV-Infektion nach 14 Tagen nachweisbar. Fällt der Test dann negativ aus, sollte er nach sechs Wochen wiederholt werden, um eine Infektion definitiv auszuschliessen.



Die Angst vor einer Ansteckung war aber jedes Mal nur der Auslöser einer unangenehmen Zeit. Im späteren Verlauf ging es jeweils um die emotionale Ebene, wenn ich merkte, dass diese Form der Hingabe mit der gegenseitigen Verbundheit zum jeweiligen Mann zu tun hatte – einem Gefühl des Vertrauens, in dem ich mich täuschte.


Es passiert also auch einem hartgesottenen Schwulen, dass er mal Sex mit Liebe verwechselt. Dabei hat der gleiche hartgesottene Schwule sonst schon genug Stress am Hals, den er sich zwar selbst macht, der ihn aber auch antreiben kann.


In Geisterwelten unterwegs


Zum Beispiel wenn er sich mehrmals pro Woche dem Ghosting aussetzt. Dank digitaler Dating-Plattformen wie Romeo oder Grindr ist es total einfach, Opfer und Täter gleichzeitig zu sein. Unter Schwulen sind solche Plattformen seit den Anfängen des Internets verbreitet. So nutzte ich «Kink» schon Mitte der 1990er-Jahre mit meinem roten iMac.


Oder zum Beispiel, und dem Geisterdasein nicht unähnlich, wenn es um ein reales Treffen und das Durchbrechen der digitalen Schlaufe geht. Das kann ziemlich kompliziert werden und sich über Wochen hinwegziehen, weil mindestens einer der Beteiligten zwar online ist, aber aus irgendeinem triftigen Grund gerade nicht bereit ist für ein Treffen.



Ab einer gewissen Häufung solcher Situationen kann es schon mal vorkommen, dass man sich in einem riesigen Männerverschleiss wähnt, obwohl das meiste nicht echt ist. Das Unechte birgt zwar wenigstens kein Ansteckungsrisiko für Geschlechtskrankheiten, dafür steckt ein gewisses Risiko für Geisteskrankheiten dahinter.


«Noch nie wurde so viel geredet, geschrieben und gezeigt. Und lange nicht mehr haben so wenige Sex gehabt und genossen.» Oversexed and underfucked – über die gesellschaftliche Konstruktion der Lust aus der Einleitung zum Buch von Autorin Iris Oswald-Rinner

Bei diesem Gedanken sehne ich mich nach der Zeit, in der ich mich noch in Darkrooms wagte, und teile Anna Rosenwassers Bewunderung für diese Orte, wo es zur Sache geht.


Jelmoli ist schuld


Schon als Junge kannte ich das Phänomen des vermeintlich riesigen Männerverschleisses. Nämlich dann, wenn der Zeitungsständer in der Stube besonders prall mit Katalogen von Versandhäusern wie Ackermann, Beyeler, Jelmoli oder Veillon gefüllt war. Dort blätterte ich hastig bis zu den Unterwäschenseiten für Männer – durchaus vergleichbar mit dem heutigen Swipen auf dem Smartphone.

Bereits aus dieser frühjugendlichen Geisterwelt wollte ich ausbrechen. Ich wollte herausfinden, was unter dem Stück Stoff war und fand es heraus, noch bevor ich mein erstes schwules Pornoheft in der Hand hielt. Es gefiel mir von Anfang an.


Latenter Mix aus Lust und Angst


Die Unverkrampfheit der jugendlichen Lust verging leider früh. Als ob die eigene Angst, sich mit HIV zu infizieren, nicht schon genügte, sagte mir bei meinem Coming-out eine damals sehr nahe stehende Person, dass sie keinen solchen Werner wolle. Jahre später erklärte sie mir, sie wollte damals nicht, dass ich an Aids sterbe.



Heute ist mein Kondom-Prinzip ein Übrigbleibsel aus dieser Stimmung. Inzwischen sind lauter weitere Angstfallen dazu gekommen. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stand Rückzug an. Die Lust verging, wurde verteufelt.


In grossen Teilen der Community entstanden in dieser Zeit Vereinsamungsphänomene – nicht primär wegen des Verzichts auf Sex, sondern wegen fehlender Begegnungsmöglichkeiten.


Dagegen bringen die Affenpocken – inzwischen Mpox genannt – Gays wenigstens im Impfzentrum als Risikogruppe real zusammen. Die Angst schwingt aber auch hier mit. Zwar weniger vor einer tödlichen Krankheit, aber davor, erneut auf die Lust verzichten zu müssen.

Und natürlich stellen sich dem hartgesottenen Schwulen allerlei weitere Fallen der Angst. Zum Beispiel nicht sexy, jung, interessant oder potent genug zu sein – immerhin gibt es für Letzteres und überhaupt für die nötige Härte eine rezeptfreie, technische Lösung in Form eines weiteren Medikaments, das übrigens in Kombination mit Poppers tödlich enden kann


Poppers_und_Potenzmittel
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