Schon die ganze Woche geht mir die Zeit durch den Kopf. Manchmal holt sie mich ein, und manchmal bin ich ihr voraus. Sie ist immer da und vergeht gleich wieder. Sie ist unglaublich wertvoll und schnell vergeudet.
Kommende Woche verbringe ich vielleicht mal wieder Zeit im Sihltal. Die Sihl hat mit der Zeit und dem Ort meiner Kindheit zu tun. Dort steht der Fluss als See scheinbar still. Dass die Sihl so eigensinnig ist und nicht in den Zürichsee, sondern parallel zu ihm und erst beim Platzspitz in die Limmat fliesst, hat mir schon immer gefallen.
Eigensinniger Fluss
Zufällig lag meine erste Wohnung in Zürich nahe an der Sihl. Und zwar dort, wo sie genauso eigensinnig eine Brücke nicht überquert, sondern der Länge nach überdeckt. Eigentlich ist es keine Brücke, sondern eine Autobahn, die im Nichts endet.
Zwischen meiner damaligen Wohnung, dem Fluss und der Brücke liegt eine Bankfiliale, deren Eingang zwei Raben schmücken. Vermutlich sind es die Raben aus der Sage über den Heiligen Meinrad. Die Vögel folgten den Räubern, die den Einsiedler im finstern Wald erschlagen hatten, bis nach Zürich.
Die Sihl fliesst immer ein bisschen neben mir, obwohl sie zum Teil recht unnahbar ist – auch in Einsiedeln. Im Viertel Egg fliesst sie aus dem Sihlsee, führt unterhalb der Staumauer kaum Wasser und ist dort, zumindest für mich, total unzugänglich. Auch am Stausee ist das Ufer an vielen Stellen nicht erreichbar. Private Grundstücke, Strassen oder die Geologie lassen es nicht zu.
Tränenmeer der Vergangenheit
Die Etzelwerk AG – eine Gesellschaft der SBB und der NOK, der späteren AXPO – baute den Sihlsee von 1932 bis 1937. Vorher war das Gebiet ein Hochmoor, wo die Menschen Torf als Energieträger stachen. Die Zeit der Stauung nutzte das Militär für Übungen und warf Sprengbomben ab.
100 Bauernbetriebe mussten dem Wasser weichen. Meine Tante erzählte mir, sie hätten meine Grossmutter mit dem ganzen Hab und Gut auf den Zügelwagen binden müssen, als ihr Hof wegen des Stauseebaus umgesiedelt wurde. Man sagte mir, dass sie starb, als ihr jüngstes und vierzehntes Kind, mein Vater, vier Jahre alt war. Das müsste 1932 und kurz nach der Umsiedlung gewesen sein.
Auch noch während meiner Kindheit war der lieblich anmutende Sihlsee mehr Gefahr als Freude. So benutzten die Leute den Ausdruck, dass jemand ins Wasser gegangen sei, wenn sich Menschen das Leben nahmen. Und so lernte meine ganze Familie nie schwimmen.
Zeit erfüllen
Zurück in die Zukunft: Ob ich kommende Woche Zeit im Sihltal verbringe, hängt nicht nur von mir ab. Gut möglich, dass ich woanders lande. Wichtiger als das Wo ist mir gerade, mit wem ich meine Zeit teile – Hauptsache sie fliesst gut zusammen.
«Ich bruche nöd vill meh als es Velo, dini Zit und dini Lust. Cha au elleige am Fluss umehocke. Aber mit dir isch es tuusigmal schöner.» aus dem Lied «Sihltal» von Kalabrese
Mit zunehmendem Alter wird es mir noch wichtiger, womit und mit wem sich meine Zeit füllt. Irgendwie bin ich recht dankbar für diesen Effekt.
«D Zit cha mr nöd kaufe, d Zit tuet mr neh und Liebi dritue. Dänn fangt si ganz andersch a laufe. Fangt sie a flüsse, so wi du wetsch.» aus dem Lied «Sihltal» von Kalabrese
Nicht so froh bin ich über die Ungeduld als Begleiterscheinung. Sie kann in Lustlosigkeit im Alltag, Enttäuschung oder sogar in Kränkung münden, wenn ich die Zeit nicht so oft oder nicht so lange mit etwas oder mit jemandem verbringen kann, wie ich mir das wünsche. Das kann recht anstrengend sein, Zeit vergeuden und im dümmsten Fall gemeinsame Zeit negativ beeinflussen.
Absprung wagen
Kommende Woche will ich mich auch von etwas lösen, das mir in den letzten vier Jahren sehr wichtig war, und womit ich viel Zeit verbrachte.
Inzwischen fühle ich mich eher auf einen Wagen gebunden, mit dem ich nicht fahren möchte. In dieser Position kann ich nicht mitziehen, sondern höchstens eine Last sein. Es ist also Zeit für den ehrlichen Absprung ganz nach dem Vorbild meiner Grosssmutter, wenn auch nicht ganz so radikal.
Gutes ansegeln
Kommende Woche eröffnen sich mir aber auch ziemlich viele Gelegenheiten, um Gutes zu pflegen. Das fängt schon am Montag mit gemeinsamer Zeit mit guten und langjährigen Freunden an.
Eigentlich geht es die ganze Woche mit lauter solchen Gelegenheiten weiter. Die Kunst wird sein, jede Sekunde davon mit Gutem und schlussendlich mit Liebe zu füllen. Ganz einfach ist das zwar nicht, dafür aber recht schön.
So schön vielleicht, dass die Zeit auch mal stillstehen dürfte. Da ist er auch schon wieder: Der Wunsch nach dem Unmöglichen. Seit dem Urknall bleibt die Zeit nun mal nicht stehen. Sie definiert bloss ein Vorher und ein Nachher. Was also bleibt, ist mit ihr zu fliessen.
«Eine Besonderheit macht die Zeit wirklich einzigartig: So gut man sich in einem Raum vorwärts und rückwärts bewegen kann, man kann sich nicht rückwärts in der Zeit bewegen.» Quelle: Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY
Blick voraus und zurück
Der Musiker Clueso spielt übrigens am 25. August 2023 am Glarner Stadopenair Sound of Glarus – in meiner Wahlheimat an der Linth, die als Limmat aus dem Zürichsee fliesst und sich am Platzspitz mit der Sihl zusammentut.
Clueso stammt aus Erfurt, der Hauptstadt Thüringens, wo mich 2019 das Gefühl erfüllte, einfach nur Zeit zu haben. Zeit für Rekonvaleszenz, die ich wegen zwei viel zu frühen Todesfällen, einer schweren Krankheit in der Familie und einem viel zu langen Fokus auf die Arbeit nötig hatte.
Die beiden Wochen im Thüringer Wald halfen mir damals aus der Patsche. Vielleicht hilft mir diese Woche ein bisschen Zeit im Sihlwald.
Sihlmatt in Menzingen ZG, Sihlsprung im Sihlwald bei Langnau ZH,
Sihl mit Autobahn in Zürich-Wollishofen und Gessnerbrücke über die Sihl in Zürich
Bilder: Patrick Federi auf unsplash.com
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