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Glarus schützt seine traditionelle Begegnungskultur

Die Gemeinde Glarus startet heute in die Pilotphase eines Pionierprojekts zum Schutz der traditionellen Begegnungskultur im Bergkanton. Das Ziel: die Aufnahme ins Weltkulturerbe der UNESCO und ins Inventar der lebendigen Traditionen der Schweiz.


Der Strassenverkehr prägt die Begegnungskultur in der Gemeinde Glarus. Jeden Tag fahren 20'000 Motorfahrzeuge durch den Kantonshauptort. Schon 2019 forderten die Glarner Sektionen des TCS und ACS, diese Tradition zu bewahren. Der angekündigte, aber noch unklare Rückgang der Verkehrszahlen durch die Corona-Pandemie lässt aufhorchen.



Eine Herzensangelegenheit


Nebst dem kulturellen geht es auch um den gesundheitlichen Aspekt: Wenn die Menschen häufiger zu Hause sind, sind sie an ihrem Wohnort öfter von Strassenverkehrslärm betroffen. Unter Berücksichtigung der WHO-Lärmgrenzwerte geht es schweizweit um eine Risikogruppe von vier Millionen Menschen. Im Verhältnis zum Motorfahrzeugbestand sind es im Kanton Glarus 20'951 Personen.


Nicht nur in ihrem Zuhause sind die Menschen betroffen. Wer sich im Freien dem Strassenverkehrslärm aussetzt, geht auch ausserhalb seiner vier Wände ein Gesundheitsrisiko ein. Lärm führt zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen – die häufigste Todesursache bei Frauen in der Schweiz – zu Bluthochdruck und Diabetes.



Um das zu verhindern und weil der Hauptort eine Signalwirkung auf den ganzen Kanton hat, lanciert Glarus ab heute ein Pionierprojekt. Es handelt sich zunächst um eine einjährige Pilotphase.


Kultur und Gesundheit auf einen Streich


Das Projekt soll die Bevölkerung vor den gesundheitlichen Folgen des Lärms schützen. Um zu erfahren, dass der Strassenverkehr die Hauptursache für den gesundheitsschädlichen Lärm ist, kann Glarus auf langjährige Studien des Bundes zurückgreifen. Die Synergien mit dem Erhalt der traditionellen Begegnungskultur liegen also auf der Hand.


Glarus setzt nicht nur deshalb bei den Motorfahrzeugen und dem Mobilitätsverhalten an – in diesen Bereichen ist auch schon vieles aufgegleist. Während die Menschen im Innern ihrer Autos immer hermetischer vor Lärm geschützt sind, wird der Aussenlärm der Fahrzeuge immer lauter. Das ist wichtig, um Fussgänger kurzfristig vor einer Kollision zu schützen und mittelfristig von einem Umstieg aufs Auto zu überzeugen.



Glarus fordert Zug heraus


Das erklärte Ziel ist der schweizweit höchste Motorisierungsgrad. Mit 591 Personenwagen auf 1000 Einwohner kratzt Glarus zwar an der 600er-Grenze, aber ein anderer Landsgemeinde-Kanton, Appenzell-Innerrhoden, hat diese Grenze bereits geknackt.


Weil der Spitzenreiter-Kanton Zug schon heute mit der 700er-Grenze liebäugelt, will Glarus bis 2025, also pünktlich zum Eidgenössischen in der Nachbargemeinde, einen Motorisierungsgrad von 800 Personenwagen pro 1000 Einwohner erreichen. Derweil verteidigt der Kanton Zug seinen Spitzenplatz weiter und strebt einen Namenswechsel zu Kanton Auto an.


Die Zeichen für die Zielerreichung stehen für Glarus trotz kaufkräftiger Zuger Konkurrenz gut. Wie in anderen Bereichen auch, führt die Corona-Pandemie zur Beschleunigung von gesellschaftlichen Prozessen. Dank des Trends zu mehr Personenwagen schützen sich immer mehr Menschen in ihren Autos nicht nur vor dem Strassenverkehrslärm, sondern auch vor der Ansteckung mit anderen übertragbaren Krankheiten.



Unkompliziertes Vorgehen


Für die Umsetzung des Projekts sind einige gesetzliche Anpassungen nötig. Um keine Zeit zu verlieren und die einjährige Pilotphase jetzt zu starten, verzichtet Glarus auf das Abwarten dieser Anpassungen.


Damit sich die Menschen nicht weiterhin unnötig im Freien – also ungeschützt vom Strassenverkehrslärm – aufhalten, sind Parkieren auf Trottoirs, laufende Motoren im Stand und Hupen als Gruss nicht mehr verboten, aber geduldet, sondern offiziell erlaubt und explizit erwünscht. Zudem gelten keine Tempobeschränkungen und dürfen Velobügel autonom demontiert werden.


Verboten hingegen ist die gesprochene Grussvariante «Grüezi» wegen des Zischlaut-Risikos – vorbei also die Zeit des «Grüezi»-Zwangs.



Wichtig: Fussgänger müssen eine Ausnahmebewilligung beantragen, die sie nur bei triftigen Gründen erhalten – zum Beispiel mit dem Nachweis eines direkten Zugangs vom Wohnraum zum Arbeitsplatz oder mit Geburtsjahr 1973/74. Damals machten die autofreien Sonntage bereits Säuglinge unumkehrbar zu Fussgängern.


Initiative aus dem Volk


Das wegen des angesetzten Tempos anspruchsvolle Projekt beruht auf einer Bürgerinitiative. Der 48-jährige Werner Kälin lebt seit zehn Jahren in Glarus: «Ich bin in Einsiedeln aufgewachsen und als junger Mann nach Zürich gezogen. Seit Zürich lebe ich autofrei. Als ich 2011 nach Glarus gezogen bin, habe ich zum Glück bemerkt, dass ich in Zürich vom Weg abgekommen bin.»


Dennoch ist es dem Zuzüger in zehn Jahren Glarus nicht gelungen, sich von seiner Fussgänger-Sucht zu befreien. Seine ganze Hoffnung liegt nun auf der Pilotphase, die ihm bei der Transformation vom Fussgänger zum Autofahrer helfen soll.



Win-Win für Bevölkerung und Wirtschaft


Zur dauerhaften Verankerung der traditionellen Bewegungsform und Begegnungskultur mit dem Auto gehört auch die Förderung des Glarner Autogewerbes – zum Beispiel mit Gutscheinen für Zweit- und Drittwagen, für den Einbau von Klappenauspuffanlagen oder für die Ergänzung von Quads mit einer – die Fahrer vor ihrem eigenen Lärm schützenden – Carrosserie.



Um die Menschen fahrfähig zu machen, unterstützt Glarus zudem Fahrschulen mit zusätzlichem Personal für Gratiskurse. Fahrprüfungen im bisherigen Sinne werden dadurch hinfällig. Voraussichtlich wird das Mindestalter für das Lenken eines Personenwagens mit dem Stimmrechtsalter 16 harmonisiert oder ganz aufgehoben.


Die Idee: Jugendliche sollen weniger Gefahr laufen, schon früh zu Fussgängern zu werden oder sich sogar in Freiräumen aufzuhalten und die Anwohner mit ihrem Lachen zu stören.



Die zusätzlichen Steuereinnahmen durch die höheren Gewinne der profitierenden Branchen überführt die Gemeinde in einen Fonds, mit dem einerseits der Verlust der Schuh- und Bekleidungsgeschäfte gedeckt wird. Andererseits sind Umschulungskurse für Mitarbeitende und Innovationsanreize für Unternehmer der leidenden Branchen vorgesehen.


Vielseitiger Gesundheitsschutz


Zudem unterstützt die Gemeinde in der Pilotphase Drive-through-Lösungen nach amerikanischem Vorbild. Dazu Kälin: «Die erste Umsetzung erfolgt beim kantonalen Impfzentrum. Die Ausgangslage ist perfekt. Es reisen schon heute alle mit dem Auto an, obwohl die gut erschlossene Lage dazu verlockt, zu Fuss oder mit dem Zug zu kommen.» Ein weiteres Projekt ist ein Auto-Kino auf dem Landsgemeinde-Platz.



Initiant Kälin ist überzeugt: «Mit diesem Projekt mischt Glarus in Zukunft mit den ganz Grossen mit. Durch meine ehrenamtlichen Engagements bei der Lärmliga Schweiz und der Klimabewegung Glarus weiss ich, wie dringend es ist, die Herausforderungen unserer Zeit anzupacken. Wir müssen die Menschen pragmatisch dort schützen, wo der Schutz schon funktioniert: im Auto.»


Auch auf die Frage der Treibhausgasemissionen aus dem Strassenverkehr hat Kälin eine Antwort: «Wenn wir unser Leben im Auto statt im Freien verbringen, müssen wir uns auch nicht mehr vor Borreliose durch Zeckenbisse oder Malaria durch Tigermücken fürchten – zwei der Zivilisationskrankheiten, an denen die Erderwärmung schuld ist.»


Der gleiche Effekt ist beim Feinstaub zu erwarten, der durch Reifenabrieb in die Luft und die Atemwege gelangt. Im Schutz des Autos, mit guten Belüftungsfiltern, ist die Gefahr gebannt.



Brennpunkt Parkplätze


Allerdings räumt Kälin ein: «Damit wirklich auch noch der letzte Fussgänger umsteigt und sich niemand mehr unnötig im lärmigen Freien aufhält, müssen die Parkplätze unmittelbar bei den Wohnhäusern, Geschäften und Behörden liegen. Hier bin ich besonders betroffen, weil ich meinen Strassengarten nicht als Parkplatz nutzen darf.» Er hofft deshalb, dass ihn die Gemeinde im Notfall umsiedelt.



Geweckter Innovationsgeist


Ausserdem rechnet Kälin mit einem Innovationsschub für die Glarner Wirtschaft: «Die Industrie kann das eigene und das Treibhausgas aus dem Strassenverkehr in ungefähr 50 Jahren zurückbinden. Wenn die Industrie die Emissionen aus dem Strassenverkehr dazu erhält, lohnen sich diese Investitionen von der Menge her so richtig.»


Falls die Rendite dann immer noch zu tief ist, kann CO2 aus anderen Gemeinden, Kantonen oder Ländern mit Mitteln der öffentlichen Hand eingekauft werden. Parallel dazu lässt sich von Glarus aus ein Transportsystem nach Island aufbauen zwecks Versenkung im Erdinnern – also dorthin, woher das Öl für das Benzin stammt.


Vielleicht findet sogar die Chalchi eine regionale Lösung und bindet künftig CO2 im Gestein, nachdem sie welches aus dem Gestein freigesetzt hat.



Erbe in Griffnähe


Der Weg zur Aufnahme der Glarner Begegnungskultur mit dem Auto ins Weltkulturerbe und ins Register der lebendigen Traditionen der Schweiz ist also gepflastert. Nun geht es darum, die noch verbleibenden Fussgänger ins Auto zu bringen. Gelingt das während der Pilotphase nicht, ist mit hohen Abgaben für die Trottoirbenützung zu Fuss oder mit dem Rückbau der Fussgängeranlagen zu rechnen.


Weitere Informationen zum Projekt sind keine verfügbar. Es ist der 1. April 2021.



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