Der Kanton Glarus ist auf dem Weg zu einer weiteren Pioniertat. Im zweiten Quartal dieses Jahres testet der Bergkanton «generell 30» innerorts. Das Projekt basiert auf interdisziplinärer Zusammenarbeit, die in dieser Form einzigartig ist.
Es war ein Zufall, als das Tiefbauamt Ende 2021 unter Spardruck auf ein Dokument stiess, das bei der Fachstelle Lärmschutz herumlag. Darin steht, dass eine Temporeduktion von 50 auf 30 Stundenkilometer den Autolärm in der Wahrnehmung der Menschen so reduziere, als ob nur halb so viele Autos verkehrten.
Innerorts sind Strassen siedlungsorientiert
Kurz mit den Kosten für lärmarme Strassenbeläge und Schallschutzfenster verglichen, war schnell klar: «Generell 30» ist nicht nur die günstigste, sondern auch die schnellste und wirksamste Methode für einen Kanton mit beschränkten Mitteln, die Lärmschutzverordnung einzuhalten.
Grund genug also, die Doktrin aufzuheben, nach der verkehrsorientierte Strassen nicht temporeduziert werden können. Und Grund genug für den Schluss, dass Strassen innerorts per se siedlungsorientiert sind.
Dadurch erhöht sich unter anderem auch die Planungsfreiheit der Gemeinde Glarus bei der Aufwertung der Innenstadt im Kantonshauptort.
Beispiellose Interdisziplinarität
Im Gespräch zwischen dem Tiefbauamt und dem Lärmschutz stellte sich zudem heraus, dass mit der Temporeduktion die Gesundheit von bis zu 20'000 Glarner:innen nicht nur geschützt, sondern durch deutlich weniger Menschen mit Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes die Risikogruppe für künftige Pandemien drastisch verkleinert wird.
Pragmatisch, wie der kleine Kanton funktioniert, setzten sich das Tiefbauamt und der Lärmschutz mit der Gesundheitsförderung an einen Tisch und reichten bei den Bundesämtern für Umwelt (BAFU), für Strassen (ASTRA) und für Gesundheit (BAG) die Idee ein, Glarus zum Testkanton für «generell 30» zu machen.
Beim BAG stiess die Idee auf offene Türen zu einem Zeitpunkt, als sich eine grosse Aufgabe gerade begann in Luft aufzulösen. Es aktivierte umgehend die anderen Bundesämter, die vom Zusammenarbeitswillen zwar überrollt, aber ebenfalls begeistert waren. So kommt es, dass die erst Anfang 2022 eingereichte Idee bereits heute in die dreimonatige Testphase startet.
Belohnung aus Bern für Hilfsbereitschaft aus Glarus
Für den Test erhält der Kanton Glarus vom Bund einen Beitrag von 2,8 Millionen Franken. Bei einer Verlängerung bis zu einem Jahr winken bis zu 11 Millionen Franken – soviel wie der Glarner Strassenlärm jährliche Kosten verusacht. Basis für die Beitragshöhe sind die schweizweiten Strassenlärmkosten von 2,1 Milliarden Franken im Verhältnis des Strassenfahrzeugbestands (CH: 6'312'055 / GL: 33'221).
Mit Widerstand der Glarner Autofahrenden sei kaum zu rechnen, lautet die Einschätzung des Tiefbauamts. Die Glarner:innen seien froh, mit dieser erneuten Möglichkeit der Pionierarbeit eine Welle der Solidarität mit den 1,1 Millionen Lärmbetroffenen in der Schweiz auszulösen.
Auch die Sektionen von ACS und TCS stimmen zu: Wir sind immer dabei, wenn wir mit etwas weniger Gas einen Beitrag leisten können. Zwar ist auch der VCS erfreut, findet aber ein allgemeines Fahrverbot innerorts zielführender.
Regeln ohne Tafeln
Die Tempotafeln an den Ortsein- und -ausgängen werden aus zeitlichen und finanziellen Gründen nicht ersetzt. Wo 50 steht, ist 30 gemeint. Und wo gar keine Zahl steht: Innerorts, also «generell 30», beginnt mit der Ortstafel.
Wer während der Testphase innerorts dennoch über 30 Stundenkilometer fährt, erhält beim ersten Mal eine Verwarnung mit einem 2000-Franken-Gutschein für lärmarme Pneus bei einem Glarner Garagisten nach Wahl.
Bei wiederholtem Verstoss wird das Fahrzeug mit einem E-Auto zwangsersetzt, das maximal mit der Mindestlautstärke von 57 Dezibel fährt.
Verstösse unwahrscheinlich
Mit Verstössen sei allerdings kaum zu rechnen, sind die verantwortlichen Stellen überzeugt. «Det wo jedä jedä kännt» sprächen sich neue Regeln schnell herum.
Sowieso sei im Kanton Glarus das Bewusstsein der Lenker:innen für die Umweltbelastung ihres Mobilitätsverhaltens ausserordentlich hoch. Einge würden sogar die 1'660 Franken externe Kosten, die sie verursachen aber nicht bezahlen, freiwillig an das Steueramt überweisen.
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