Einer der Auslöser, der im Aufleben der dreizehnten Fee mündete, ist ein kleines Buch mit weniger als 200 Seiten. Ich entdeckte es in einem Jahr, als ich mich zum ersten Mal an einer Gemeindeversammlung äusserte.
Auch diese Erfahrung an einem Freitagabend im November vor vier Jahren gehört zum Erwachen der dreizehnten Fee. Nach diesem Abend – einer an sich schlechten und deswegen auch guten Erfahrung – half mir das kleine Buch, besser zu verstehen, was passiert war.
Das Buch trägt den Titel «Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen» und stammt aus der Feder und den Gedanken von Axel Hacke.
Es ist ein Versuch, Anstand zu erklären – und das Wort von seiner verstaubten Wirkung und missbräuchlichen Verwendung zu einem Wert zu führen, den ich für mich versuche zu leben, wenn ich mich äussere.
Jetzt, nach vier Jahren, lese ich das kleine Buch wieder. Inzwischen hat sich einiges verändert. Vieles ist gleich geblieben. Standen 2017 noch die Folgen der Flüchtlingskrise im Zentrum der gesellschaftlichen Beschäftigung, folgten 2018 die Klimakrise und 2020 die Coronakrise.
Ich habe den Eindruck, dass der Umgang mit jeder dieser Krisen immer noch mehr am Anstand kratzte und kratzt. Eine Entwicklung, die mir immer noch mehr Sorgen machte und macht.
Und eine Entwicklung, die – aus meiner Perspektive – die immer gleichen Verfechter krisen- und themenunabhängig erfolgreich bewirtschaften und verstärken.
«Was bedeutet es für jeden Einzelnen, wenn Lüge, Rücksichtslosigkeit und Niedertracht an die Macht drängen, im Wirtschaftsleben erfolgreich sind, sich im Alltag durchsetzen? Wenn erfolgreich in der Öffentlichkeit gegen alle Regeln des Anstands verstossen wird? Was heisst unter diesen Bedingungen genau, ein anständiges Leben zu führen?»
Dieser Auszug aus dem Einband stellt die Frage treffend, die das kleine Buch zu beantworten versucht. Es erklärt zum Beispiel auch den Missbrauch des Wortes durch Vertreter des Nazi-Regimes.
So predigte Heinrich Himmler seinen Kumpanen den Anstand. Ein Umstand, der das Wort einserseits untauglich machen könnte. Andererseits gehörte es laut Hacke immer zu den strategischen Grundsätzen der Feinde von Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, sich Begriffe zu eigen zu machen und sie umzudrehen.
Im kleinen Buch ist auch zu lesen, dass heute ähnliches zu beobachten ist wie in den Zwanziger- und Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts:
«Zunächst verschwinden die kleinen Konventionen, der Ton wird rauer und unverschämter. Anstand, Moral, Ethik sind sehr weitgehend auf der Strecke geblieben. Dann folgen Taten. Man muss nur einmal das NS-Dokumentationszentrum in Müchen besuchen, um zu sehen, wie schnell so etwas gehen kann, wie plötzlich der Anstand verschwand, ganz normale Bürger der Stadt auf offener Strasse attackiert wurden und ihr Leben nicht mehr führen konnten.»
Zurück zur Strategie der Umkehr der Begriffsbedeutung. Ein chiniesisches Sprichwort lautet einen Hirsch für ein Pferd ausgeben. Es geht zurück auf eine über 2000 Jahre alte Geschichte. Damals wurde am Hof des Kaisers ein Hirsch vorgeführt und behauptet, er sei ein Pferd. Wer das bestritt oder schwieg, wurde hingerichtet. Die Unterworfenen durften bleiben.
Auch heute werden Worte gerne umgedreht – um bei Diktaturen zu bleiben zum Beispiel mit dem Begriff Ökofaschismus. Er wird bei Debatten zum Klimawandel gerne von Skeptikern als Warnung vor der Machtübernahme durch Klimaschützer verwendet.
Die gleichen Skeptiker lehnen beim Umgang mit dem Klimawandel nahezu sämtliche Lösungen ab, ausser die Begrenzung der Bevölkerungszahl.
Das ist das Phänomen, das sich Ökofaschismus nennt – ein Netz aus diffusen Sorgen, das rechtsnationalistische Akteure zum Teil gezielt einsetzen.
Es kann auch unabhängig und spontan entstehen, ohne dass man sich der faschistoiden Züge bewusst ist – das macht das Ganze besonders gefährlich.
Umso wichtiger und anständiger ist es, während der Klimadebatte bei der Argumentation mit der Bevölkerungszahl mit Sachlichkeit Paroli zu bieten. Sonst öffnen sich Tür und Tor für Regimes, die darüber entscheiden, wer leben darf und wer nicht. Regimes, wie sie Europa unter Mussolini und Hitler kannte.
Oder wie es Marko Kovic am 17. Mai 2020 auf watson erklärt:
«Mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts assoziieren wir nicht unbedingt so etwas wie Umweltschutz oder Naturverbundenheit. Doch die Natur war ein wichtiges und prominentes Motiv im Selbstverständnis und in der Propaganda des Faschismus. Unter Mussolini wurden das ländliche Leben und eine Art Rückkehr zur Natur stark romantisiert und zelebriert. Schuld am Niedergang des Volkes und der Natur waren in dieser Weltsicht natürlich die Juden, die sich als entwurzeltes, heimatloses Volk überall in Italien breit gemacht hätten.»
Eine zwar fiktives, aber durchaus beängstigend-mögliches Bild einer menschenverachtenden Öko-Diktatur mit gewalttätiger Unterdrückung zeichnet die TV-Serie The Handmaid's Tale im Sinne von: «Wir wollen die Welt nur besser machen. Besser? Besser bedeutet nie besser für alle.»
Und was ist nun Anstand bei der Begegnung mit der ökofaschistischen Ideologie? Nun: Schon die Verwendung des Worts Ökofaschismus wird vermutlich mit dem Vorwurf der «Nazi-Keule» heruntergemacht.
Anständig berücksichtigt, dass sich Menschen bei der Argumentation mit der zu hohen Bevölkerungszahl der Ideologie nicht zwingend bewusst sind, sind also (auch) andere und vor allem sachliche Reaktionen gefragt.
Und von diesen möglichen Reaktionen gibt es einige. Einerseits wird die Bevölkerungszahl nicht ständig wachsen. Andererseits geht es beim Klimawandel um den klimarelevanten Konsum.
In der Schweiz verursacht er jährlich 4,4 Tonnen CO2-Äquivalente pro Kopf. Addiert man die im Ausland verursachten Emissionen hinzu, sind es 14 Tonnen – deutlich mehr als der weltweite Durchschnitt von knapp 6 Tonnen.
Die planetare Belastbarkeitsgrenze liegt bei 0,6 Tonnen CO2-Äquivalenten pro Kopf. Es geht also darum, den CO2-Ausstoss der grossen Verursacher zu senken. Sie tragen die Hauptverantwortung für die Erderwärmung.
Das nennt sich nicht nur Klimagerechtigkeit gegenüber den Ärmsten – lokal und global – der Gesellschaft, sondern ist auch ein Gebot der Effizienz bei der Bewältigung der Klimakrise.
Ein Beispiel einer lokalen sachlichen Reaktion ist die Zunahme des Strassenverkehrs. Sie wird gerne mit dem Bevölkerungswachstum begründet, hat aber mit unserem erhöhten Fahrverhalten zu tun – oder anders gesagt: Mit der anhaltend wachsenden Mobilitätskrise.
So haben sich im Kanton Glarus die Personenwagen von 1980 bis 2019 auf das Doppelte erhöht – im Bergkanton leben heute nur 2000 Menschen mehr als in den Achtzigerjahren, es sind aber über 12'000 Personenwagen mehr registriert.
Schlussendlich geht es bei der Konfrontation mit der ökofaschistischen Ideologie auch darum, dass wir Menschen nicht einfach sterben lassen oder sogar töten wollen. Das zeigt zum Beispiel unser Streben nach Schutz der Risikogruppen während der Coronakrise.
Gefragt ist also die Diskussion echter Lösungen, statt durch das Beharren auf nicht zielführende Argumente – wie die Reduktion der Bevölkerungszahl – die Diskussion und Lösungsfindung zur Bewältigung unserer Mehrfachkrise zu verweigern.
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