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Doch ich möchte nicht aufgeben, träume weiter

Mein Freund Oliver und ich lassen uns auf einen offenen Briefwechsel ein. Jetzt ist sein Brief da. Und ich freue mich sehr darüber – er regt mich an, berührt mich, macht mich neugierig auf den Weg, auf den er meine Gedanken bringt.


Lieber Werner


Deine Einladung zum Austausch auf der dreizehnten Fee freut und ehrt mich sehr. Ebenso deine lieben Worte, und ich kann sie nur erwidern: Vertrauen tue ich dir unterdessen seit 25 Jahren und deine Art von Wachsamkeit, ich interpretiere sie als Aufmerksamkeit, freut mich immer wieder, teilweise überrascht sie mich; nicht der Umstand an und für sich, sondern welche Dinge du feststellst, wie du sie betrachtest und welche Schlüsse du daraus ziehst. Und ich danke dir für deinen Mut, deine Gedanken so offen zu teilen.



Mir geht es ebenso wie dir, mit dem Wesen, dem Umstand des Vertrauens: Leben ohne kann ich mir unterdessen nicht mehr vorstellen und ist für mich der Leim eines gelingenden gesellschaftlichen Miteinanders.


Auslöser dazu war ein Erlebnis in der Position als Vorgesetzter: Entweder vertraue ich meinen Angestellten oder ich komme in Teufels Küche – permanent schlechte Gefühle oder Misstrauen meinen «Gspändli» gegenüber, präventiv oder wenn was nicht so kam, wie ich es mir wünschte. Das wollte ich nicht und stimmte für mich auch gefühlsmässig nicht, ein ätzendes, kratzendes, brennendes und saures Gefühl gleichzeitig.


Denn schliesslich muss ich davon ausgehen, wenn ich mich und meine Mitwelt ernst nehme, dass es wohl jedem Menschen wie mir geht: Ich möchte für die Welt und mich Gutes. Entsprechend verhalte ich mich. Wenn das mal nicht so gelingt, dann ist nicht Vorsatz, allenfalls Unwissen oder schlicht Pech die Ursache. Shit happens.


Und dazu gehört für mich unweigerlich das Verzeihen. Das zeitlich nachgelagerte Pendant zum Vertrauen, rückblickend der Glaube an die Güte des Menschen, das Beste gewollt zu haben, es nicht besser gekonnt zu haben oder es künftig einfach besser machen zu wollen. Ein Ideal, das ich im Kleinklein des Alltags immer wieder gut üben kann.



Doch seit bald zwei Jahren wird mein Alltag erheblich mit Verantwortlichkeiten und Auflagen aufgeladen. In einer einmaligen Ein- und Aufdringlichkeit durch mediale Dauerbeschallung: Wenn du das oder jenes tust oder dieses eben nicht, dann bist du verantwortlich für den Tod von Menschen und Einschränkungen im öffentlichen Leben. Uff. Eine schwere Last, obwohl ich mit diesen «Zuteilungen» als Kritiker des Kapitalismus, mit seinen verheerenden Folgen für Umwelt und Mensch, eigentlich bestens vertraut bin.


Ich glaube, ich bin nicht der einzige, der dabei nicht irgendwie ins Rudern kommt: Angst, Scham, Zweifel, Trotz oder auch kognitive Dissonanzen können sich dabei breit machen. Deshalb auch, hat sich bei mir grosser Informationshunger entwickelt. Und das Verdauen all dieser Informationen hat für mich eine sehr persönliche Erzählung («Narrativ») ergeben. Und die beisst sich sehr, mit der offiziellen Meinung und den einhergehenden Massnahmen.



So gibt es wohl die verschiedensten Ausprägungen, wie die Menschen mit dieser Last umgehen. Dazu gehört wohl auch, wie du schreibst, sich auf eine Seite «gedrängt» zu fühlen. Und die dick befrachtete Vorlage vom Wochenende, machte das auch nicht einfacher.


Du mahnst den Dialog an, das ist begrüssenswert. Doch leider befürchte ich, dass es vorerst zu spät ist und viel früher hätte geschehen müssen. Denn für einen Dialog bedarf es neben dem Zuhören und gemeinsamen Zielen (wir sind wieder beim Vertrauen) auch einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage, in diesem Fall auch Datengrundlage, denn sie bildet die Basis für die Problemanalyse.


Diese gemeinsame Grundlage wurde in den letzten Monaten durch die Medien meiner Meinung nach konsequent behindert und zerstört. Gute Argumente werden recht gehässig diskreditiert. Aber erst wenn man sich über das Problem selbst oder dessen Ausmasse oder Bewertung einig ist, kann über geeignete Lösungen und Massnahmen dazu diskutiert werden.


Doch ich möchte nicht aufgeben, träume weiter.



Ausserdem haben meiner Erfahrung nach einige Menschen in meinem Umfeld keine Kapazitäten mehr für einen gelingenden Dialog. Ich vermute, sie sind derart übersättigt von der vorher festgestellten Dauerbeschallung, dass ein Austausch über drei Sätze hinaus an Ermattung scheitert, oder sie sind so verstopft von ihren Wahrheiten und ihrem medial abgekupferten Schubladendenken, dass selbst auf Daten und Studien beruhende Argumente ignoriert oder als wissenschaftsverleugnende Glaubensbekenntnisse herabqualifiziert werden.



Das schwächt mein Vertrauen momentan arg in diese Welt. Mich dünkt, alles steht Kopf: SVPler wehren sich gegen Ausgrenzung und die Linke findet's ganz ok, wenn Menschen ohne Impfung nicht mehr ins Hallenbald dürfen. Schwule, die vor nicht allzu langer Zeit noch um ihre gesellschaftliche Akzeptanz als Schwule und HIV-Positive kämpfen mussten, laden ihre Freundin, die aufgrund einer Autoimmunerkrankung Angst vor der Impfung hat, nicht mehr an ihr privates Fest ein. Mich friert's.


Und da bin ich wieder ganz bei dir, ich höre auf mein Gefühl. Meinen Anker. Spüre in mich hinein, versuche meine Mitte zu behalten, nicht nach hinten, unten oder zu weit nach vorne zu schauen. Sondern ganz einfach dort, wo ich jetzt grad bin. Damit es mir nicht zu schwindlig wird und ich mich nicht verliere.


Liebe Grüsse, Oliver




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