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Bereit sein für den Auftritt

Wenn ein Tag wie gemacht ist für Erinnerungen an früher und für Gedanken zur Zukunft, ist es vermutlich Silvester. Auch darum ist heute der Tag, um Oliver zu schreiben.


Lieber Oliver


Dein Brief und das Foto aus früheren Zeiten haben mich ermuntert, meine Fotoschachteln zu durchkämmen. Beim Wühlen in den Kisten erinnere ich mich auch daran, wie wir uns kennenlernten. Es war 1996. Damals fing unser berufsbegleitendes Betriebsökonomie-Studium an. Du warst von Anfang an mein Fixstern in der Klasse. Allein deshalb bin ich froh, dieses Studium gemacht zu haben.



Irgendwann begannen wir, zusammen zu reisen. Von einer dieser Reisen sind diese beiden Bilder aus meinen Fotoschachteln. Wir fuhren nach Paris und in die Bretagne. Es gab überall Sauerkraut, das mit Kartoffeln und Fleisch üppig auf Etageren serviert war – oder eben «Choucroute garnie». Mit der Zeit entwickelten wir ein Flair für Reisen in Städte, wo gerade der Bär tanzte, ohne davon zu wissen – zum Beispiel nach Hamburg am Hafengeburtstag oder nach Amsterdam am Koningsdag.



Heute passiert uns das nicht mehr. Mit Reisen und Veranstaltungen ist es inzwischen so eine Sache. Wobei selbstverständlich nach wie vor Klima belastend gereist und Kommerz getrieben gefeiert wird – unter Ausschluss eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft.


In unseren Briefen ging es um Vertrauen und Aufmerksamkeit. Meine Vertrauensfähigkeit ist anhaltend unter Druck. Einfach darauf zu vertrauen, dass alles gut kommt, geht gerade nicht. Zum Beispiel sagt der Big-Data-Experte Dirk Helbing in der vierten Folge von Zeit&Geist, dass wir aufmerksam sein und lernen müssen, auf unsere Intuition zu hören.



Was der ETH-Professor auch sagt: Es bestehe die Gefahr, dass sich eine Zukunft materialisiere, die wir gar nicht haben wollten. Sein Appell: Jede und jeder müsse sich ihrer Rolle in der Welt bewusst sein und bereit sein für seinen Aufritt.


Mich macht dieser Appell zuversichtlich, weil er mich darin bestätigt, mich mit meinen Möglichkeiten für meine Überzeugungen einzusetzen. Das tun auch Menschen mit mir entgegengesetzten Überzeugungen, was zu Kampfsituationen führt. So sehr mir der konstruktive Dialog anstelle des Kampfes am Herzen liegt: Wenn es sich für etwas zu kämpfen lohnt, dann für seine Überzeugungen – und für die Liebe



Make Love your Goal: Diese Ansage gefällt mir. In der Weihnachtszeit sowieso. Immerhin feiern wir die Geburt eines Erlösers. Gerade folgen drei Könige einem Stern, um dem Retter am 6. Januar zu huldigen.


Ich bin zwar kein Bibel-Interpret. Wenigstens in dieser Zeit erlaube ich mir trotzdem die Frage, was mir die Figur Jesus sagen will, deren Geburt wir gerade feiern. Das ist nicht ganz anspruchslos, kann sich aber als Hilfsmittel eignen, um sich seiner Rolle bewusst zu werden und sich für seinen Auftritt bereit zu machen.



In Deinem Brief hast Du mich auf die neun Eskalationsstufen nach Friedrich Glasl gebracht. Ich habe sie mir in einem Video angeschaut. Befinden wir uns auf der fünften Stufe – dem Gesichtsverlust? Hier werden die Parteien zu Gegnern. Oder haben wir schon die sechste Stufe – Drohungen – überschritten?


Irgendwie wünsche ich mir gerade, dass wir erst beim Gesichtsverlust sind. Eine Frau, die sich davor wenig fürchtet, ist die deutsche Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht. Für mich spricht sie mit einer Logik, der auch ich folgen kann.



Zum Jahresausklang reagiert Wagenknecht in weniger als zwei Minuten souverän auf einen Faktencheck zu ihren Äusserungen.


Auch mich besorgt die Dominanz der Impfung – in der öffentlichen Diskussion und in der Lösungsfindung sowieso. Diese festgefahrene Situation weist darauf hin, dass wir in der Lose-Lose-Phase der neun Eskalationsstufen stecken.


Hier lassen sich Konflikte ohne Machtausübung einer starken Autorität nicht mehr lösen. Vielleicht lautet die Frage also nur noch, ob wir uns gerade auf der Stufe «begrenzte Vernichtung» oder «Zersplitterung» befinden, und wann es auf der letzten Stufe «gemeinsam in den Abgrund» geht?


The White Temple, Chiang Rai, Thailand

Auch eine andere linke Politikerin gefällt mir mit ihrer Art, sich zu äussern. Ich bin froh um den Auftritt der Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr im Tages-Anzeiger und in ihrem Blog am 24. Dezember 2021 – ohne mit ihr in allen Punkten einig sein zu müssen. Sie spricht zum Beispiel nicht einfach von der Impflicht als autoritäres Schlagwort, sondern davon, was es dafür bräuchte, sofern sie überhaupt nötig wird.


Ob Fehr und Wagenknecht das Heu auf der gleichen Bühne haben, weiss ich nicht. Für mich sind die beiden wichtig, weil ich mir einen Einstieg in die institutionelle Politik überlege. Ausgerechnet in dieser Phase verstört mich aber der Fokus der Schweizer Sozialdemokratie, meiner politischen Heimat, auf die Impfung gewaltig. Dass die Partei der Gerechtigkeit ihrem Credo den Rücken zuwendet, fordert meinem Vertrauen alles ab.



Als Geimpfter könnte mir das Gezeter um die Impfung zwar egal sein. Als Geimpfter ist mir aber auch der Antrieb klar, sich auf eine dritte und vermutlich auch auf eine vierte und fünfte Dosis einzulassen.


Dieser Antrieb kann alles Mögliche sein, zum Beispiel die Angst vor gesellschaftlichem Ausschluss, der Druck des Arbeitgebers, die Sehnsucht nach Reisen, die Hoffnung auf einen milden Krankheitsverlauf oder die Lust auf ein flächendeckendes Live-Experiment an der Menschheit. Nur eines ist mit Sicherheit nicht der Antrieb: Solidarität mit irgendwem.


Um wieder in den Erinnerungsmodus zu wechseln: Mich erinnert der Umgang mit der heutigen Situation zum Beispiel an die Aidskrise. Auch damals war es ungemein wichtig und dringend, Schuldige zu finden. Das war einfach: Es waren die Opfer selber, die Schwulen.


Anders bei Corona: Die Opfer liessen sich anfangs keiner gesellschaftlichen Gruppe zuteilen, die sich zu Schuldigen machen liess. Inzwischen gibt es diese Gruppe – künstlich kreiert durch eine technische Massnahme zur Bekämpfung der Pandemie. Eine Massnahme, die irgendwann höchstens ein Teil der Lösung sein könnte.



Jetzt ist aber Schluss mit Corona, wenigstens in diesem Brief. Schliesslich ist heute Silvester und ich habe Lust auf Erinnerungen. Eine unserer Reisen führte uns 2015 nach Wien – ungewollt zwischen Life Ball und Eurovision Song Contest.


Während der Life Ball die grösste Benefiz-Veranstaltung für HIV-Infizierte und an Aids erkrankte Menschen war, holte Conchita Wurst den Gesangswettbewerb in die österreichische Hauptstadt. Zwar interessierten uns beide Grossanlässe nicht wirklich. Doch das Lied, das Eurovision nach Wien brachte, ist ein passender Abschlussgruss für diesen Brief.



Der Travestiekünstler Thomas Neuwirth war sich im Mai 2014 in Dänemark seiner Rolle bewusst, bereit für den Auftritt als Conchita Wurst und gewann für Österreich – mit einem Lied, das sich der griechischen Mythologie und einem Vogel bedient, der nach dem Tod aus seiner Asche neu entsteht.


Liebe Grüsse, Werner


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