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Seite – welche Seite?

Mein Freund Oliver und ich lassen uns auf einen offenen Briefwechsel ein. Was auch immer dabei herauskommt. Vielleicht geht es darum, was uns umtreibt, was uns verbindet oder unterscheidet. Vielleicht kommt auch was ganz anderes heraus.


Lieber Oliver


Volle sechs Wochen ist es her, seit wir für ein paar schöne Stunden zusammen waren. Seit unserem Fondue-Schmaus ist viel und nichts bei mir passiert. Aufregung, Sorgen, Ablenkung – Courant normal.



Mit der dreizehnten Fee habe ich einen Ort eingerichtet, an dem ich meine Aufregungen, Sorgen und Ablenkungen äussere. Jetzt freue ich mich, einen anderen Menschen an diesen Ort einzuladen. Eine andere Fee, die was zu sagen hat und der ich vertraue – Dich.


Auf Vertrauen setze ich schon immer. Auch wenn ich zwischendurch enttäuscht werde. Irgendwie ist Vertrauen wie ein Lieblingsrezept: Weil es meistens gelingt, passt man zwischendurch nicht auf. Und dann kann es zum Reinfall führen.


Wachsamkeit ist mir mindestens so wichtig, wie Vertrauen. Ich frage mich gerade, ob die beiden überhaupt zusammenpassen. Jedenfalls vertraue ich Dir, zum Beispiel weil Du ein wachsamer Mensch bist.


Damit das hier auch etwas unterhaltend wird, habe ich für diese Stelle ein Video ausgesucht.



Vielleicht hört es sich überheblich an, aber ich mache mir Sorgen, dass die Menschen zu wenig wachsam sind. Ich bin selber ein Mensch und weiss selber, wie es ist. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass die Menschen einander kaum vertrauen. Und da sind die beiden wieder: Wachsamkeit und Vertrauen. Vielleicht gehören sie ja doch zusammen.


Seit Beginn der Corona-Massnahmen begleitet mich das Gefühl, auf eine «Seite» gedrängt zu werden. Egal von welcher «Seite» es auf mich zukommt: Ich beginne innerlich reflexartig, die jeweils andere «Seite» zu verteidigen.


Weil das anstrengend ist, stimme ich manchmal einfach schweigend der «Seite» zu, die mich

gerade beackert – dann komme ich mir wie mein eigener Judas vor. Zu oft kann ich mir das allerdings nicht leisten, weil Selbstverrat zermürbt.



Das Zertifikat zum Beispiel treibt bei mir seltsame Blüten. Mein erster 3G-Anlass war ein Konzert. Ich sah lauter Leute, die einfach nur wollten, dass alles wie früher ist: Hamburger essen, Bier trinken, zu Schlagermusik grölen. Und ich wurde den Gedanken einfach nicht los: Gar nichts ist wie früher; von mir aus braucht es das auch nicht zu sein; aber so wie jetzt geht es auch nicht.


Trotzdem glaube ich irgendwie daran, dass die Menschen sich bei derart grossen gesellschaftlichen Fragen irgendwann zusammentun, sich nicht mehr bloss auf irgendwelche Seiten schlagen oder nicht länger einfach zufrieden sind, wenn sie Hamburger essen, Bier trinken oder zu Schlagermusik grölen können. Also ihre Gedanken äussern und einander zuhören, sich etwas trauen – weil sie einander vertrauen.



Seit bald zwei Jahren reklamiert allerdings jede «Seite» für sich, die Menschen zusammenzubringen und vergisst dabei glatt, der anderen «Seite» zuzuhören – geschweige denn, ihr zu vertrauen. Gut möglich, dass das immer schon so war und jetzt einfach offensichtlicher ist.


Ein Beispiel für die Haltung einer solchen «Seite» ist ein Shanty von Radio Zürisee. Es beginnt relativ harmlos, wenn auch verdächtig. Schon in der zweiten Strophe offenbart es seine «Seite» und verurteilt die andere «Seite».


Damals, als mich dieses Shanty regelrecht empörte, wollte ich mehr über die verurteilte «Seite» erfahren und war Zaungast an einer Corona-Demo in Glarus. Ich war enttäuscht darüber, nichts mehr zu sehen und zu hören, als eine Anleitung, sich vom Maskentragen zu befreien. Nach einem Jahr Krise kam mir das zu trivial vor.



Manchmal habe ich das Gefühl, dass unser Umgang mit der Demokratie den Dialog inzwischen mehr stört, statt fördert. Ständig müssen wir ja oder nein sagen und uns dadurch auf eine Seite schlagen. Vielleicht bin ich zu fest von der Landsgemeinde geprägt. Dort kann man «ja, aber» sagen, also Geschäfte abändern.


Eine Ja-oder-Nein-Abstimmung steht uns am kommenden Wochenende wieder bevor. Bei der Covid-Vorlage hätte ich gerne «ja, aber» auf den Stimmzettel geschrieben. Ich informierte mich auf beiden «Seiten» und musste schlussendlich auf mein Gefühl hören. Und das sagte nein, weil das Zertifikat uns zwar trennt, uns aber nicht schützt.


Es wird Menschen geben, die eine solche Argumentationsweise verteufeln – und mich gleich mit. Für mich war sie ausschlaggebend. Und ja: Ich bin auch nicht sicher, was richtig ist.



Ein Nein könnte vielleicht dazu führen, dass wir auch andere Optionen als nur den technischen Teil für die Lösung diskutieren. Diese Diskussion brauchen wir sowieso. Ohne sie kommen wir nicht auf andere Optionen. Solange andere Optionen aber tabu bleiben, hängen wir weiter fest im isolierten Glauben an die Technik.


Das wahrscheinliche Ja am Sonntag wird hingegen kaum zu einer Auseinandersetzung führen, welche die Spaltung lindert und die Hilferufe ausserhalb der monetären Dimension hört.


Hoffentlich widmen sich immer mehr Menschen auch wieder immer mehr ihrem Gefühl, statt sich nur auf eine Seite zu schlagen, sich beim Boostern vorzudrängeln oder Maskentragende herunterzumachen.



Das Gefühl braucht es für das Vertrauen. Genauso wie das Wissen und den Dialog. Beim Dialog muss man seine eigenen Absichten kennen und offenlegen, um verstanden zu werden. Das ist wichtig, um gemeinsame Lösungen zu finden.


Dass es für den Dialog Mut braucht, ist normal. Dass dabei Pranger und gesellschaftlicher Ausschluss weit über seine physische Dimension hinaus drohen, ist für uns alle sehr gefährlich.


Liebe Grüsse, Werner

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