Heute ist sowas wie mein zweiter Geburtstag. Der 25. November 1973 war nicht nur wegen meiner Taufe ein besonderer Tag für mich – er war aussergewöhnlich für das ganze Land.
«Es hat geschneit und wir mussten zu Fuss mit dem Kinderwagen zur Kirche», erzählte und erzählt mir meine Mutter immer wieder von meiner Taufe. Es war der erste von drei autofreien Sonntagen, die in der Schweiz wegen der Ölkrise verordnet wurden.
Wohl deshalb interessierte es mich schon von klein auf, was es mit diesem autofreien Sonntag auf sich hatte. Und weil ich zu klein war, um den Tag bewusst zu erleben, wünschte ich mir immer einen solchen autofreien Sonntag.
Autofreie Sonntage in der Schweiz
Noch heute wünsche ich mir einen. Von mir aus auch einen autofreien Montag, Mittwoch oder Freitag. Noch lieber gleich zwölf pro Jahr, die das Schweizer Stimmvolk am 28. Mai 1978 ablehnte. Am 18. Mai 2003 reichte es nicht einmal für vier im Jahr. Und heute gibt es im besten Fall ein müdes Lächeln, wenn jemand davon spricht.
Eigentlich wertloser Rohstoff
Dabei ist heute, wie 1973, Energiekrise. Schon damals standen Krieg und Abhängigkeit im Zentrum. Die Preise stiegen rasant, weil das Öl knapp wurde. Rückblickend kann von echter Knappheit keine Rede sein. Die bekannten Ölreserven sind heute so gross wie nie.
Eigentlich sind es gar keine Reserven. Die Nutzung von Öl führt nicht nur zur lebensbedrohlichen Klimaerwärmung und Umweltzerstörung, sondern auch zu Unterdrückung, Armut, Krieg und Tod auf dem ganzen Planeten. Also ist Öl zwar vorhanden, aber für eine überlebenswillige Zivilisation nicht nutzbar, also wertlos.
Kleines Land ganz gross
Die Schweiz spielt als wichtigster Rohstoffhandelsplatz eine zentrale Rolle im Welttheater ums Öl. In den Siebzigerjahren stieg Marc Rich zum «King of Oil» auf. Er machte Geschäfte mit Diktatoren und unterlief Sanktionen. 1974 gründete er die Marc Rich + Co AG in Zug. Später wurde daraus die heutige Glencore.
Die Rohstoffe kommen physisch nie in die Schweiz. Sie werden direkt von Drittland zu Drittland transportiert. Nach einem Blick in die Doku «Öl. Macht. Geschichte» ist das so ziemlich die Handschrift von Marc Rich. Er machte offiziell verfeindete Staaten im Hintergrund zu Handelspartnern. Rich starb 2013 in Luzern.
Ein Jahr nach Richs Tod begann der Rohölpreis zu sinken. Die geopolitische Weltordnung geriet durcheinander. Durch Fracking wurden die USA zum grössten Erdölproduzenten der Welt. Die Energiewende schritt weiter zaghaft voran.
Und heute? Geopolitik und Weltordnung voll durcheinander. Zuversicht scheint bald aus unserem Wortschatz zu verschwinden. Es würde mich nicht wundern, wenn die aktuelle Energiekrise wieder nicht die Energiewende beschleunigt, sondern erneut den Ölverbrauch steigert und die Abhängigkeiten vergrössert. Schliesslich verscherbelt man Reserven in Notlagen zum besten Preis.
Alle ausser das Auto
Bei der heutigen Energiekrise geht es vordergründig um Gas und Strom. Öl fliesst, zwar ein bisschen teurer, im Hintergrund weiter. Heute werden keine Fahrverbote verordnet. Heute frieren und verzichten wir auf die Weihnachtsbeleuchtung. Ob uns das näher rücken lässt oder unsere Herzen noch mehr abkühlt, wird sich herausstellen.
Wie der Plan bei einer Strommangellage aussieht, zeigt das Erklärvideo der Organisation für Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen OSTRAL. Gerade befinden wir uns auf Stufe eins, den freiwilligen Sparapellen inklusive Vorwarnungen für die übrigen Stufen.
Es sieht ganz danach aus, dass jede Krise zu einem neuen Höhenflug des Autos führt. Nach der Ölkrise startete das Motorfahrzeug erneut richtig durch. Kaum war der Katalysator da, stieg der Fahrzeugbestand weiter an – trotz weiterhin bestehender Klima- und Umweltschäden.
Während der Corona-Pandemie wurde das Auto zum sichersten Fortbewegungsmittel gekürt, weil kein Kontakt mit anderen Menschen erforderlich ist, um es zu fahren. Selbst im Kontext der Energiewende wird ein Antriebswechel als Rettung der Menschheit gehandelt, obwohl dadurch der künftige Stromverbrauch massiv steigen wird.
Umso trauriger kommt es mir vor, dass die Kiste, in der sich landesweit Millionen Menschen jeden Tag von ihrer Umwelt aussperren, inzwischen für die einen zum geliebten und für die anderen zum notwendigen Lebensinhalt geworden ist. Bei einer Abhängigkeit in diesem Ausmass liegt kein autofreier Sonntag drin. Kein einziger. Dann noch lieber im Auto sterben.
Getaufte Überzeugung
Mir war das Auto noch nie geheuer. Als Kind musste ich beim Autofahren kotzen. Ein junger Mann, der eine grosse Rolle spielte für unsere Familie, starb bei einem Autounfall. Unsere Katzen wurden eine nach der anderen überfahren. Als Jugendlicher hatte ich Albträume mit blutverspritzten Windschutzscheiben. Die Fahrprüfung war mein erster finanzieller Ruin. Nach zwei Jahren gab ich das Autofahren auf, weil es meine Bewegungsfreiheit einschränkte.
Es gab auch gute Momente mit dem Auto und sogar mit dem Motorrad. Zum Beispiel durfte ich mich als Jüngster im Kofferraum des orangen «Opel Rekord Kombi» einrichten. Als Kind sammelte ich Oldtimer-Modellautos, schaute Knight Rider und fuhr im Seitenwagen eines Töffs über die Sattelegg. Als Erwachsener genoss ich die Fahrt im Pick-up durch die kanadische Wildnis und lernte Norwegen von unten bis oben mit dem Mietauto kennen. Nichts davon fehlt mir.
Ich habe kein einziges Foto von mir mit meinem einzigen Auto, das ich je hatte. Es war ein gelber Golf, der gleich alt war wie ich, mit einem Dachfenster und einem Choke (Starterklappe). Eine Weile dachte ich über einen Namen für die Kiste nach, fand es aber uninteressant, eine noch emotionalere Beziehung zu einer Maschine aufzubauen.
Dafür hat mir meine getaufte Überzeugung beschert, dass ich nach der Lärmliga Schweiz bei der VCS-Sektion Glarus im Vorstand sitze, ab und zu eine kleine Aktion am internationalen Parking Day veranstalte und dieses Jahr am Aktionstag «Verkehrswende jetzt!» mitgemischt habe.
Aktuell sammle ich mit meinen Kolleginnen vom Netzwerk zukunftsfähige Mobilität Glarus Unterschriften für eine Petition an den Glarner Regierungsrat.
Und just heute findet die Gemeindeversammlung Glarus statt, an der es um einen autofreien Landsgemeindeplatz geht. Einen Vorgeschmack auf die Glarner Haltung zur Autofreiheit ergibt die Debatte an der diesjährigen Landsgemeinde zu den «Slow Sundays» im Klöntal. Ein bisschen mehr Autofreiheit liegt also durchaus drin – aber nur ein bisschen, dem müden Lächeln zuliebe.
Das Update am Abend:
Das Geschäft zum autofreien Landsgemeindeplatz wurde an der Gemeindeversammlung zurückgewiesen mit dem Auftrag, ein Parkhaus zu planen.
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