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Im gleichen Boot liegt unser Rahmen

Manchmal hilft mir ein Rahmen. Vielleicht weil man aus ihm fallen kann. Es gibt auch solche, in denen ich mich wohl fühle – zum Beispiel im Rahmen des Briefwechsels mit Oliver.


Lieber Oliver


Drei volle Monate habe ich dir nicht zurückgeschrieben. Habe ich unsere Freundschaft vernachlässigt? Du weisst, dass ich mit dieser Frage nicht nach einem Nein von dir fische.


Wir haben uns zwischendurch getroffen mit gemeinsamen Freunden und zu zweit. Ich konnte bei dir meine Sorgen wälzen und habe bei dir übernachtet. Das hat mir sehr gut getan. Du bist ein richtig guter Freund.



Unter anderem wegen der gleichen gewälzten Sorgen sind die gleichen drei Monate vergangen. Schon bevor sie Sorgen waren, fesselten sie mich – im positiven Sinne als Begeisterung. Du hast mir mal gesagt, dass du meine Begeisterungsfähigkeit bewunderst.


Von dieser Begeisterung wollte (und musste) ich mich eigentlich nicht befreien und verpasste dabei glatt den Moment, mich bei ihrer Verwandlung in Sorgen nicht herunterzuziehen und dabei auch noch gefesselt zu bleiben. Tönt kompliziert. Ist es auch. Ich habe versucht, das in der neuen Staffel meines alten Märchens zu verarbeiten.


Ja, klar, der Auslöser ist ein Mensch, der mir sehr schnell sehr stark eingefahren ist. Ein Mensch, der mich triggert und dem ich vermutlich auch deswegen begegnet bin.



Es ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert – in letzter Zeit passiert es mir sogar öfter. Dass das nicht von ungefähr kommt, bestätigt auch eine Passage in meinem persönlichen Jahreshoroskop:


Da dieser Prozess eine Bewusstmachung der eigenen Verletztheit beinhaltet, dürften Sie sich oft mit dem Paradox konfrontiert sehen, dass eine Begegnung in Ihnen schmerzliche Gefühle auslöst und gleichzeitig sehr wohltuend wirkt. Versuchen Sie, beide Aspekte in Ihrer Wahrnehmung zu behalten. aus Werners Astrodata-Jahresvorschau, Teil Juli 2023

Der Versuch gelingt mir einigermassen, ist aber noch gewöhnungsbedürftig. In unserer Freundschaft kenne ich solche schmerzlichen Gefühle nicht, obwohl wir nicht immer synchron sind, obwohl wir nicht immer gut gelaunt sind und obwohl wir uns manchmal auch übereinander genervt haben.


Mit der Zeit können aus vermeintlich schlechten Momenten schöne Erinnerungen entstehen. In Hamburg waren wir mal aus unserer Ferienwohnung ausgesperrt. Das war nervig, haben wir aber hingekriegt und ist heute eine schöne Erinnerung.


Ich hatte das Glück, dich in einem Rahmen kennenzulernen. Dadurch musste ich mich nicht bemühen, dich wieder zu treffen und mir keine Sorgen machen, dich zu verlieren. Inzwischen sind bald 30 Jahre vergangen, seit wir begonnen haben, uns kennenzulernen. Alleine durch die vielen Jahre hat sich ein ganzer Haufen Vertrauen angesammelt.


Mich beschäftigt gerade sehr, wie ich es anstelle, mich mit immer weniger Lebenszeit mit neuen Menschen zu befreunden und ihr Vertrauen zu erlangen, wenn ich weder einen Rahmen noch 30 Jahre dafür habe. Und zwar ohne einen Menschen im Schnelldurchgang von mir und vom Bleiben überzeugen zu meinen – so wie du geblieben bist, ganz ohne Angst, dich zu verlieren, ganz ohne ständig dicke miteinander sein zu müssen.



Zugegeben, der Wechsel von «dicke sein» auf Fat Boy Slim ist etwas gewagt, gesucht oder abrupt. Doch das Musikvideo passt auch wegen des eingebauten Schnipsels einer Äusserung von Präsident Johnson im kontroversen US-Wahlwerbespot «Daisy» recht gut.


«We must either love each other, or we must die.» Lyndon B. Johnson (1908 – 1973)

Recht gut passt das zum Buch-Tipp, der in deinem letzen Brief enthalten ist. «Im Grunde gut» habe ich mir inzwischen als Hörbuch angelegt, eröffnet andere Sichtweisen und tut mir gut. Ich könnte ein Zitat nach dem anderen daraus aufschreiben, weil mich das Buch immer wieder begeistert, manchmal auch irritiert. Mit «es» meine ich das Simple daran.


Was, wenn der Mensch einfach gut ist – zu langweilig, zu unspektakulär, zu naiv und schlichtweg unmöglich? Es ist aber wahrscheinlich, erwägt Rutger Bregman immer wieder. Genauso wie er von der Fassadentheorie erzählt, die uns Menschen um die Ohren geschlagen wird, nur damit wir glauben, der Mensch sei im Grunde schlecht.


Ich bin in der gehörten Fassung nicht immer sicher, auf welche Studien sich Bregman bezieht, doch alleine der Gedanke, dass alle Menschen im Grunde gut sind, ist extrem angenehm und ziemlich entspannend – er hat aber auch einen Haken:


«Wer sich für den Menschen einsetzt, tritt auch gegen die Mächtigen der Erde an. Für sie ist ein hoffnungsvolles Menschenbild rundherum bedrohlich, staatsgefährdend, autoritätsunterlaufend. Schliesslich bedeutet es immer, dass wir keine egoistischen Tiere sind, die von oben herab kontrolliert, reguliert und dressiert werden müssen. aus «im Grunde gut» von Rutger Bregman

Diesen Haken spiegelt auch der Kontext des Musikvideos zu «Sunset (Bird of Pray)». Der besagte Wahl-Werbespot spielte mit der Angst der Menschen vor der Atombombe – einem grausamen Mittel der Mächtigen, die sich vor einem hoffnungsvollen Menschenbild fürchten und nicht davor zurückschrecken, die Menschen unter Androhung des Todes zur Nächstenliebe zu zwingen. Dabei gehört sie bereits zu unserem Naturell. Ein krasses Konstrukt mit der Absicht, Angst zu schüren und Kontrolle zu bewahren, um die Furcht vor dem hoffnungsvollen Menschenbild zu bannen.



Ist also alles konstruiert auf der Basis der Fassadentheorie, die behauptet, dass nur eine dünne Kruste Zivilisation existiert, die jederzeit bröckelt? Eine Theorie, die Bregman am Beispiel von 9/11 widerlegt. Es brach eben keine Panik aus, die Menschen gingen ziemlich ruhig das Treppenhaus hinunter und liessen einander den Vortritt, erzählt er von Augenzeugenberichten.


Lassen wir uns also aufhetzen? Wenn der Mensch im Grunde gut ist, sollte das eigentlich gar nicht passieren können – dann sind die Mächtigen der Erde auch gut. Ich werde das Buch noch zu Ende hören müssen, um darauf vielleicht eine Antwort zu finden. Gerade ist nämlich von Oxytocin die Rede. Das Hormon ist gleichzeitig ein Neurotransmitter, macht uns zwar liebesfähig, wirkt aber in erster Linie in der eigenen Gruppe positiv.


Laut Bregman hetzen uns zum Beispiel News (nicht per se die Medien) auf. News leben von der Reichweite, also zum Beispiel von der Empörung oder den Ängsten, die wir uns mit der kreierten Fassadentheorie angeeignet haben. Bregman schreibt, dass der News-Konsum die Menschen krank macht. Ich selbst habe vor ein, zwei Jahren aufgehört damit. Die News fehlen mir nicht, im Gegenteil: Ich kann die Welt wieder ein Stück ernster nehmen.


Vor diesen ein, zwei Jahren war Corona-Pandemie. Damals wären Bregman und seine Anhänger:innen wohl als Verschwörer:innen gehandelt worden – heute sind sie vielleicht bloss Idealist:innen, die sich per se nicht ernst nehmen lassen.


«Ein Idealist kann sein ganzes Leben lang recht haben, aber dennoch als naiv abgetan werden.», aus «im Grunde gut» von Rutger Bergmann

Das 9/11-Beispiel zeigt: Wenn die Menschen in Not sind, sind sie eher füreinander da und treten weniger gegeneinander an. Damit sind wir beim Boot, von dem du schreibst und in dem wir alle sitzen. Im gleichen Boot, das unser Rahmen ist auf einer vielleicht viel entspannteren Reise, als wir uns wähnen.


Das hilft mir gerade auch ein bisschen, mich von den Fesseln meiner persönlichen Sorgen zu befreien. Also komm, lass uns weiter zusammen reisen. Es kostet nichts, ausser dass wir uns weiterhin furchtlos lieben und unser Glück spüren.



Liebe und Grüsse, Werner

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