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Lust auf Glück und Versöhnung

Oliver hat mir mit seinem letzten Brief einen Floh ins Ohr gesetzt – ein Wort, das ich selten benutze, aber worauf ich grosse Lust habe: Versöhnung. Sie bringt Glück.


Lieber Oliver


«Nein, meine Söhne geb ich nicht», heisst das Lied am Ende deines Briefes. Wir beide sind Söhne. Unsere Eltern mussten uns nicht für einen Krieg hergeben. Wir hatten Glück – etwas, das nicht selbstverständlich und selten anhaltend ist.



Geteiltes Glück ist doppeltes Glück


Dem Glück bin ich immer irgendwie auf der Spur. Manchmal steckt der Antrieb dahinter, die Welt besser machen zu wollen. Manchmal ist es eine egoistische Angelegenheit und manchmal lässt sich Glück teilen – dann verdoppelt es sich sogar.


Manchmal werde ich auf der Suche nach Glück enttäuscht, enttäusche ich andere oder mich selbst. Das Risiko gehe ich ein, weil die Aussicht auf das Glück mehr wiegt. Mit der Enttäuschung muss ich sorgfältig umgehen, damit daraus Versöhnung und schliesslich wieder Glück wird. Ich versuche mir gerade beizubringen, das besser zu können.


In einer Welt, in der sich die Menschen immer wieder gegeneinander stellen und sich am Laufmeter aufhetzen (lassen), in der alles anstrengend, immer schlimmer wird und die ihrem Ende entgegenzugehen scheint, wächst mein Bedürfnis nach Glück und Versöhnung exponentiell. Spürst du das auch?



Schlauer Plan aus dem Herzen


Klar war die Welt schon immer, wie sie ist. Klar wächst meine Lust auf Glück und Versöhnung, weil ich älter werde. Klar ist es naiv zu denken, dass die Welt irgendwann besser wird. Trotzdem will ich die Zuversicht nicht loswerden, dass in einem überschaubaren Rahmen eines Menschenlebens die Liebe das tauglichste Überlebenskonzept ist.


Durchaus möglich, dass ich mit meiner Zuversicht etwas verbissen bin; dann halt. Bei Zuversichtsmangel greife ich ab und zu auf das Beten zurück. Du fragst mich, wie das geht. Bis zur Antwort mache ich den Umweg über die Entstehung meines Hangs dazu.



Friedensstifter aus dem Mittelalter


Ich bete nicht oft. Wenn ich es tue, hilft es meistens – zum Beispiel mit dem Bruder-Klaus-Gebet. Es stammt von einer Symbolfigur der Versöhnung schlechthin. Niklaus von der Flüe war ein angesehener politischer Berater. So bewahrte er den Bund der Eidgenossen 1481 vor einem schweren Konflikt zwischen Stadt und Land. Auf seinen Rat hin kam es anstelle des Zerfalls zur Aufnahme weiterer Kantone in den Bund.


Bruder Klaus setzte auf Versöhnung und sein Plan ging auf. Diese Botschaft ist für mich zentral an seiner Geschichte – egal ob ich gläubig, katholisch, patriotisch oder was auch immer bin oder nicht bin.



Altmodisches Mantra aus der Wiege


Obwohl mich niemand hinschleppte, war ich als Junge oft in der Kirche. Ich sang im Stifts-Chor des Klosters Einsiedeln. Wir sangen Messen – musikalische Kompositionen auf der Grundlage der katholischen Liturgie in heiligen Messen: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei.


Wir sangen immer auf Lateinisch. Ich verstand kein Wort. Jedes Jahr an Weihnachten stand die Lebkuchen-Messe an; und für Ostern gab es besondere Kompositionen, die wir besonders intensiv probten – zum Beispiel von Wolfgang Amadeus Mozart (welche es war, weiss ich leider nicht mehr).



Die Zeit im Stifts-Chor war im Rückblick kurz. Mein Stimmbruch setzte ihr ein Ende. Sie prägte mich und legte meine Schwäche für kirchliche Rituale offen. Ich hatte das Glück, dass ich das Beste aus der Kirche herausholen konnte: Den Zugang zum Beten und zur Musik.


Scheinheilige Liebe


Vermutlich mach(t)en nicht wenige Menschen schlechtere Erfahrungen mit der Kirche. Auch mir wurde irgendwann klar, dass ich als schwuler Mann nichts bei ihr verloren habe. Von meinem damit begründeten Austritt wollte mich denn auch niemand aus meiner damaligen Zürcher Kirchgemeinde abhalten.


Der Auslöser für den Austritt war eine Predigt von Papst Benedikt XVI. Als er sagte, wir dürften Gott nicht selbst definieren, war ich entsetzt. Mit diesen Worten verwehrte er mir alles, was meinen Glauben ausmacht: Im Ritual meine Gefühle selber interpretieren zu dürfen und das Signal zu verstehen, dass Jesus – das Synoym für die Liebe – in uns ist (immerhin verspeisen wir ihn zum Abendmahl) und diese Liebe jeden Menschen befähigt, die Welt gut zu machen (ganz ohne Gott im Himmel, einfach mit der Liebe in sich).


«Nehmet und esset alle davon: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.»

verwendete Worte von Jesus in der heiligen Eucharistie


Auf diese Scheinheiligkeit bin ich inzwischen recht anfällig. Und wenn ich mit meiner eigenen Scheinheiligkeit konfrontiert werde, die ich vermutlich von meiner katholischen Sozialisierung habe, wird es besonders anstrengend.


Chronisch kranke Welt


Von Scheinheiligkeit schreibst auch du in deinem letzten Brief und nennst sie Heuchelei. Auch ich finde sie unerträglich. Ihr im Namen der Liebe entgegenzutreten, bedingt Ehrlichkeit und Klarheit – das braucht Mut. Wenn es Mut braucht für die Liebe, ist das irgendwie krank.



Und ich frage mich, wieso die Chronifizierung dieser Krankheit statt aufgehalten, befeuert wird mit gezieltem Vergessen, orchestrierter Verachtung und Leugnung des Unerwünschten. Genau genommen: Indem du diese Sorgen äusserst und untermauerst, wendest du das Konzept der Liebe an.


Klar frage ich mich auch selbst, ob ich mit dem Liebesrezept selbst ein Heuchler bin. Selbst wenn ich Söhne hätte, müsste ich sie nicht für einen Krieg hergeben. Nur weil ich für mein Glück sorge, sind Covid-Impfgeschädigte immer noch nicht anerkannt. Und bloss weil ich Mitglied einer Partei bin, die sich Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt, ist Julian Assange noch nicht befreit – und so weiter.


Und doch: Am Ende bleibt uns halt wirklich nichts, als die Liebe. So gesehen hat das Ende etwas Gutes.


Kampf um Liebe, Glück und Versöhnung


So ganz habe ich noch nicht erklärt, wie das mit dem Beten bei mir funktioniert: eigentlich wie ein Mantra. Das Bruder-Klaus-Gebet habe ich bereits erwähnt. Es ist der Hammer, wenn man sich erlaubt, «mein Herr und mein Gott» als Synonym für die Liebe in sich zu verstehen.


Auch das Schuldbekenntnis mag ich. Bei der Passage mit «durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine grosse Schuld» schlägt man sich dreimal mit der rechten Faust auf die linke Brust – wer es noch ein Spürchen dramatischer mag, wählt die lateinische Variante mit «mea clupa, mea culpa, mea maxima culpa.»



Mehr als Gebete, aber mit ähnlicher Wirkung, gehören Lieder zu meinen liebsten Ritualen. Mit deutschen Texten mag ich sie besonders, weil ich sie dann gut verstehe und besser auswendig lernen kann. Gerade ist eines davon «Wenn wir wieder werden» von Rainer von Vielen.


Die Zeit ist dein grösster Feind. Kein Gestern für Heute. Kein Morgen für Jetzt. Nur du und das Rauschen der Brandung.

Du hast es nur gut gemeint, kaum dass es dich freute. Die Sorgen gewälzt wie Teig für das Brot der Routine.

Wie wirst du dich aus deinen Fesseln befreien?


Wann können wir ganz sein?

Wenn wir wieder werden.

Mehr denn je. Ehrlich und klar.

Du hast genug geweint. Jetzt lös deine Bänder.

Erlaub dich zu ändern und lass dich den Ozean spüren.


Wenn dir das sinnlos erscheint, dann träum deine Ängste.

Und heg deine Sorgen mit dem Rücken zum Sonnenaufgang.

Wie wirst du dich aus deiner Nacht befreien?


Wann können wir ganz sein?

Wenn wir wieder werden.

Mehr denn je. Ehrlich und klar.


Wenn ich empfinde, bin ich dankbar, denn meine Seele ist geklaut.

Meine Gefühle sind aus Plastik. Und aus Beton ist meine Haut.


Wann können wir ganz sein?

Wenn wir wieder werden.

Mehr denn je. Ehrlich und klar.


von Rainer von Vielen


Ein anderes Lied der gleichen Band passt zur Empörung in deinem Brief. Die braucht es nämlich im Kampf um die Liebe und letztlich für Glück und Versöhnung.



Liebe und Grüsse von Werner

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