Gestern vor 29 Jahren fuhr ich vom Monte Ceneri nach Einsiedeln, um mich von meinem Vater zu verabschieden. Es war kein Fehlalarm.
«Wohin gehst Du?» war die letzte Frage, die mir mein Vater stellte. Ich stand in Uniform vor ihm und antwortete: «Ins Militär.» So richtig freuten wir uns beide nicht. Doch die RS-Vollendung stand an.
Schon eine Weile vorher war ich in der Rekrutenschule (RS) in Losone. Bei der Sanität dauerte sie nur 14 statt 17 Wochen. Deshalb musste jeder Rekrut später noch drei Wochen separat bis zur Vollendung nachholen.
Ich war ein braver Rekrut. Obwohl ich weder sportlich die nötige Leistung brachte, noch mit der Pistole die Zielscheibe traf, sollte ich weitermachen.
Als ich sagte, ich müsse helfen auf meinen kranken Vater zu schauen und könne deshalb nicht weitermachen, folgte: «Sie können ja weitermachen, wenn er tot ist.» Ich entgegnete irgendwas im Sinn von «geht's noch?» Mein Gegenüber entschuldigte sich und entlastete mich vom Weitermachen.
Die RS ertrug ich erstaunlich gut. Ein bisschen freute ich mich sogar darauf, weil mein Schwager mir nach der Aushebung sagte, ich käme zur Schwulen-Truppe. Davon merkte ich allerdings nichts. Dafür lernten wir Wunden nähen, Spritzen und Infusionen setzen, verbinden, gipsen und Verletze retten.
Als ich einmal an einem Samstag auf dem Heimweg in einer Raststätte zum Pissoir ging, stand ein älterer Mann neben mir, schaute auf meine zerstochenen Unterarme und sagte: «Du huärä Fixer!». Das fand ich recht lustig. Nicht so lustig war, das Gelernte bei meinem Vater anzuwenden und ihm Morphium zu spritzen.
Sonst erinnere ich mich kaum an etwas, das ich in der RS lernte. Ausser an die Jungs in meinem Zug, die ich kennenlernte. Einer davon fotografierte die 14 Wochen. Einer war Gitarrist einer damals aufsteigenden Musikband. Einen anderen sah ich später manchmal im Schwulen-Club. Es blieb keiner. Dafür erinnere ich mich an meinen Lieblingsbefehl: Ruhen!
Eigentlich hätte ich meinem Vater gerne von meinen Erlebnissen in der RS erzählt. Vielleicht hätte er Freude gehabt, wäre stolz gewesen oder wir hätten gestritten. Als er im RS-Alter war, war der zweite Weltkrieg seit drei Jahren vorbei. Während des Kriegs war er Teenager. Für ihn war die RS wohl eine ernstere Angelegenheit, als für mich.
Als ich auf dem Monte Ceneri informiert wurde, ich müsse nach Hause fahren, packte ich sofort meine Sachen und ging. An Däddys Todestag holte ich seinen Ehering, den er mir vorher geschenkt hatte, beim Goldschmied ab. Ich musste ihn enger machen lassen.
Nachdem Dädi in der Nacht gestorben war, fuhr ich mit meinem gelben Golf herum und tat das, was ich am Autofahren am meisten schätzte: Hemmungslos allein schreien. Darauf folgte die Ruhe.
Auch mit dem Militär war danach bald Ruhe. Nach zwei Wiederholungskursen kam ich weg und wurde auch untauglich für den Zivilschutz gestempelt. Das Militär fehlt mir nicht. Mein Vater dafür immer mal wieder.
Nun lasse ich Däddy wieder in Frieden ruhen. Immerhin hatte ich ihn 21 Jahre lang. Und er müsste heute mit 95 Jahren bloss nochmals erleben, wie mit einem weiteren Krieg Angst und Schrecken in Europa verbreitet wird und lauter Unschuldige darunter leiden oder ihr Leben lassen, während andere davon profitieren.
ein wunderbarer und berührender Text! Danke, Werner!