Vor 60 Jahren – Mattmark
- Gratis und Franko

- 30. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Nov.
Es war die schwerste Naturkatastrophe in der jüngeren Geschichte der Schweiz – und das grösste Schadenereignis in der SUVA-Geschichte. 88 Menschen, darunter 56 Gastarbeiter aus Italien, starben am 30. August 1965, als eine Eislawine auf die Baracken der Mattmark-Baustelle im Walliser Saastal niederging.
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Die Katastrophe in den Alpen
von SUVA
Schon bald stellte sich die Frage: Warum standen die Baracken in der Gefahrenzone? 17 Personen wurden der fahrlässigen Tötung angeklagt – darunter auch zwei SUVA-Mitarbeiter. Sie wurden von den Gerichten freigesprochen.
«Es war, als ob der Eisberg vom Himmel fiel.» Er habe nur überlebt, so ein Arbeiter, weil ihn die Druckwelle der Eislawine zu Boden geschleudert habe. Ein anderer Arbeiter berichtete von einem «fürchterlichen Windstoss», dann seien die Kameraden «wie Schmetterlinge davongeflattert». Es habe ein grosses Donnern gegeben, «und dann war Schluss». Menschen, Lastwagen und Planierraupen seien durch die Luft geflogen.
Was sich an diesem 30. August 1965 ereignete, mutete wie der Weltuntergang an. So schilderte es ein Überlebender. Kurz vor dem Schichtende, um 17:20 Uhr, geschah es: Ein gewaltiges Stück des Allalingletschers brach von der Gletscherzunge ab, eine verheerende Lawine aus Eis und Geröll – rund zwei Millionen Kubikmeter – stürzte auf die Baracken, Werkstätten und die Kantine der Mattmark-Baustelle. 88 Menschen starben, 11 wurden verletzt. Und trotz der unfassbaren Tragweite sprach man auch von Glück: Hätte sich die Katastrophe nur eine halbe Stunde später – nach dem Schichtende – ereignet, hätten sich bis zu 700 Arbeiter in den Mattmark-Baracken aufgehalten.
Die traurige Bilanz hielt die SUVA in ihren Aufzeichnungen fest: 88 Todesopfer, 86 Männer und 2 Frauen – davon 56 Italiener, 23 Schweizer, 4 Spanier, 2 Deutsche, 2 Österreicher und 1 Staatenloser. Und weiter die versicherungsrelevanten Angaben: «37 waren ledig, 51 verheiratet, davon 41 mit 79 rentenberechtigten Kindern; dazu kamen noch 5 Witwen und 1 Braut in Erwartung.»
Nichts hat sich verändert
von JUSO Schweiz
Was die damaligen Bundesbehörden als «Naturkatasprophe» darzustellen versuchten, war in Wahrheit eine Folge bewusster Entscheidungen: Die Baracken wurden wissentlich an einem instabilen Ort errichtet um Zeit zu sparen und Kosten zu senken. Dieses Unglück hätte verhindert werden können, wenn das Leben der Arbeiter:innen mehr gezählt hätte als Einsparungen beim Bauprojekt.
Doch: Das Leben von Menschen aus der Arbeiter:innenklasse – erst recht, wenn sie migriert sind – war den Behörden und dem Kapital damals wie heute wenig wert. Dieses schreckliche Unglück – das schwerste in der Schweizer Geschichte – war kein Einzelfall. Von 1965 bis 2025 haben sich die Zustände nur oberflächlich verändert: Rassistische Ausbeutung und tödliche Arbeitsunfälle dauern an.
Im Jahr 2024 wurden in der Schweiz 286’000 Fälle von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten bei den Versicherungen gemeldet. Darunter waren auch mehrere tödliche Unfälle – so etwa der Einsturz eines Baugerüsts in Prilly am 13. Juli 2024, bei dem drei Bauarbeiter ums Leben kamen. Gerade im Baugewerbe ist das Risiko durch extreme Wetterbedingungen besonders hoch.
Viele Arbeitgeber:innen ignorieren jedoch diese Risiken bewusst, um Baufristen um jeden Preis einzuhalten – selbst wenn das auf Kosten der Sicherheit ihrer Angestellten geht. Migrantische Arbeiter:innen sind zudem überproportional häufig in gefährlichen, körperlich belastenden oder allgemein prekären Jobs tätig. Es gibt in der Schweiz also nach wie vor eine rassistische Arbeitsteilung.
Selbstverständlich haben sich die Arbeitsbedingungen seit Mattmark verändert. Damals mussten migrantische Arbeiter auf der Baustelle jeweils 11-Stunden-Schichten arbeiten, um die Maschinen rund um die Uhr, sechs Tage die Woche am Laufen zu halten. Die Fortschritte dürfen jedoch nicht überschätzt werden: Die Schweiz liegt im Vergleicht mit anderen europäischen Ländern, nach wie vor an der Spitze, was die effektive Wochenarbeitszeit bei Vollzeitstellen betrifft. Und auch heute gilt: Arbeit – insbesondere in prekären Branchen – ist kein Mittel zur Selbstverwirklichung oder Emanzipation, sondern bleibt eine Form von Unterdrückung im Interesse einer besitzenden bürgerlichen Klasse. Ein klares Zeichen dafür: Der Anteil der Menschen, die sich bei der Arbeit gestresst fühlen, nimmt weiter zu – von 18 Prozent im Jahr 2012 auf 23 Prozent im Jahr 2022.
Daher fordert die JUSO:
Die Einführung echter Arbeitsschutzmassnahmen, die nicht nur von Expert:innen entwickelt, sondern auch direkt mit den betroffenen Arbeiter:innen diskutiert werden.
Das Ende der rassistischen Arbeitsteilung – migrantische Menschen dürfen nicht länger die ausgebeuteten «helfenden Hände» der Schweiz sein.
Die Reduktion der Wochenarbeitszeit auf 25 Stunden.
Langfristig: Die vollständige Vergesellschaftung der Produktionsmittel, um die Unterdrückung von Arbeiter:innen und Migrant:innen durch Lohnarbeit zu beenden – und ihre kollektive Befreiung zu ermöglichen.





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