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Im Grenzgebiet

Aktualisiert: vor 17 Stunden

Grenzüberschreitungen, Übergriffe und Abgründe: Überall und ständig lauern Dinge und Situationen, bei denen es sich einzumischen gelten würde. Der Berg an Pendenzen wächst der Redaktion über die Köpfe. Massnahmen sind erforderlich.


Eine der Massnahmen verknurrt Eisbär zu diesem Artikel. Fee meinte, er habe ja schon mal was über die Grenze geschrieben. Dabei wähnte sich Eisbär bisher sicher in seinem Ressort Liebe und fragte die abwinkenden Persianer nach Hilfe. Dr. Wolf beruft sich auf seine Gesundheit und Werner hat sowieso keine Zeit.


Also wird aus der Not eine Tugend: Nach zwei kurzen, aber schönen Herbstreisen ins Schweizer Grenzgebiet und in die Zeit der beiden Weltkriege, gibt es heute – genau 30 Jahre nach einer mörderischen Grenzüberschreitung – kein Zurück mehr für Eisbärs Verknurrung zu diesem Beitrag.


Ajoie, Jura


Von 1961 bis 1976 haben haben die Basler Chemiefirmen über 200'000 Tonnen Chemieabfälle in der jurassischen Gemeinde Bonfol im Boden nahe der Landesgrenze entsorgt. Inzwischen ist die Sanierung abgeschlossen. Um die Firmen zu verpflichten, war viel Druck seitens der Öffentlichkeit und der Behörden erforderlich.


Diesen September wanderte ich um die ehemalige Sondermülldeponie herum: Auf dem Weg, dem Sentier du KM 0, sind Überreste von drei Fronten des Ersten Weltkriegs zu sehen: der französischen, der schweizerischen und der deutschen.



Ich aber hatte nur Augen für die Étangs de Bonfol. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg hatten viele Soldaten in der Ajoie nur Augen für eine Frau. Gilberte Montavon war zu Beginn des Ersten Weltkriegs 18 Jahre alt, bewirtete zusammen mit ihrer Familie in Courgenay Tausende von Soldaten und Offizieren, die sie umschwärmten.


Während des Zweiten Weltkriegs wurde Gilberte de Courgenay zu Lebzeiten zur Ikone der geistigen Landesverteidigung. Es gab ein Lied und einen Film über sie. Damit wollte man die soziale Zerrissenheit, die das Leben und den Staat 1918 lahmzulegen drohten, in den vierziger Jahren vermeiden. Zugleich zementiert(e) der Film männlich-hegemoniale Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft.




Onsernone, Tessin


Auf der Grenze zwischen Italien und der Schweiz, zwischen dem Valle Onsernone und dem Val Vigezzo, befinden sich die Bäder von Craveggia. Auf den Besuch dieses Ortes bin ich auf Einladung der Alpensozis gekommen. Am Vorabend gab es in der Osteria Bar Amici Eselvoresen mit Polenta und erzählte ein Veteran, was an der Landesgrenze am 18. Oktober 1944 passierte:


Rund 250 Partisanen begehren Einlass in die Schweiz. Militärisch sind sie zu schwach gegen die Faschisten und die Deutschen, die Norditalien immer noch besetzen. Erst als sie in grösster Lebensgefahr schweben, werden sie über die Grenze gelassen.


Die meisten überleben das Feuer der Faschisten. Ein Dutzend wird schwer verletzt. Zwei Männer sterben. Federico Marescotti wird auf Schweizer Boden von einem Maschinengewehrschuss getötet. Es ist die Rede von der schwersten Grenzverletzung dieser Art im Zweiten Weltkrieg.



Als ich dem Veteranen zuhörte und am Tag darauf bei den Bädern fragte ich mich, wem die Schweiz wohl heute helfen würde. Den Faschist:innen? Den Antifaschist:innen? Würde sie die Partisanen heute ihrem sicheren Tod überlassen oder sie wieder über die Grenze lassen und ihre Leben retten?


Auf dem Rückweg von den Bädern entschieden wir uns zu zweit für eine andere Variante der italienischen Seite des Flusses entlang. Wenige Meter nach seinem Beginn war sein Verlauf nicht mehr klar. Bei einer Bachüberquerung rutschte ich aus und fiel auf den nassen Stein. Irgendwann ging es steil hinauf und irgendwann sollten wir eine steil herabfallende Runse überschreiten, über die der Weg nur entlang einer rutschigen Steinwand führte.


Das war für mich eine unüberwindbare Grenze, und ich gab verzweifelt auf. Wir kehrten auf den sicheren Weg auf der Schweizer Seite zurück. Ich war erschöpft vom Aufgeben und hoffte, dass mir die Kraft in meinen Beine zum Tanzen erhalten bleibt.




Orem, Utah


Die Interpreten von Der Mussolini, die deutsch-amerikanische Freundschaft, bringt mich auf einen Mann, der in der Schweiz eine Grenze versuchte zu überschreiten: Im Sommer 1940 wollte ein deutscher Presseattaché kritische Stimmen in der Schweizer Presse zum Schweigen zu bringen. Sein Nachname führt mich in die USA von heute.


Zwischen meinen kurzen Herbstreisen ins Schweizer Grenzgebiet überschritt dort ein Mensch im US-Bundesstaat Utah eine Grenze und erschoss einen anderen. Das Opfer: ein rechtsextremer Influencer und Freund des amtierenden US-Präsidenten mit dem gleichen Nachnamen, wie ihn der deutsche Presseattaché von 1940 trug. Der mutmassliche Attentäter ist verhaftet und angeklagt. Irgendwie finde ich es seltsam, dass ich nur bis Ende September Artikel zum Prozess finde.


Dafür bin ich auf eine andere Nachricht im September gestossen: Das US-Justizministerium hat einen wissenschaftlichen Bericht zurückgezogen, der falsche Behauptungen des US-Präsidenten und anderer Republikaner zu linksradikaler Gewalt widerlegt. Aus dem Bericht geht hervor, dass «rechtsextreme Extremisten weitaus mehr ideologisch motivierte Morde begangen haben als linksextreme oder radikale islamistische Extremisten».



Zum Attentat, das bereits nicht mehr so richtig interessiert, und darüber, warum das Opfer kein Märtyrer ist, habe ich im Eulemagazin einen Beitrag über den christlich-fundamentalistischen Influencer gefunden. Und schon in keinen Neuigkeiten im September fiel mir ein Artikel dazu in den News der Reformierten auf. Das lässt mich weiterziehen eine TV-Serie, wo im fiktiven Land Gilead ein christlich-fundamentalistisches Regime die Macht auf dem Boden des US-Territoriums übernimmt, Fronten bildet und menschliche Grenzen am Laufmeter überschreitet.

Fiktiver Gottesstaat Gilead | Quelle: Reditt
Fiktiver Gottesstaat Gilead | Quelle: Reditt

Das Buch dazu von Margaret Atwoods, The Handmaid's Tale, ist an den Schulen der wirklichen USA verboten. Im Bundesstaat Florida dürfen Mädchen nicht mehr über Menstruation sprechen. Ausserdem entsendet der präsidiale Freund des rechtsextremen Influencers die Nationalgarde in eine US-Stadt nach der anderen: Los Angeles, Washington und Chicago waren schon dran. Das Mannschaft-Magazin findet: Das ist schon nahe dran an dem, was Atwood in ihrem Buch und die gleichnamige TV-Serie dazu schildern: eine religiös-verbrämte, fundamentalistische Militärdiktatur.


Was ich mir weder vom Attentat noch von der Diktatur nehmen lasse, ist Bella Ciao als gelungenere Version von Gilberte de Courgenay.




Tel Aviv, Israel


Das Attentat in in der Family City Orem und der aufkommende Faschismus in den USA führen mich zur Grenzüberschreitung, die den heutigen Tag für diesen Beitrag bestimmt – in die White City of Tel Aviv vor 30 Jahren.


Am 4. November 1995 erschoss ein jüdischer Fundamentalist Izchak Rabin. Mit der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten und Friedensnobelpreisträgers starb auch der Traum vom Frieden im gelobten Land (ein weiteres Mal). Kurz zuvor sang Rabin das Friedenslied Shir LaShalom.



Zurück zu Landesgrenzen: In diesem Bereich hat Israel seit seiner Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg einiges zu bieten. Der Blick in die Geschichte der Region hält laut der Freitag einige Überraschungen bereit.


Wie sich die Grenzen in Palästina und Israel verschoben haben | Quelle: der Freitag
Wie sich die Grenzen in Palästina und Israel verschoben haben | Quelle: der Freitag

Zur jüngsten Grafik in der schnellen Animation steht im Artikel von Lutz Herden:


Im Februar 2004 legt der israelische Premier Ariel Sharon einen Abkopplungsplan für den Gazastreifen vor. Er sieht den kompletten Abzug der israelischen Armee und Siedler aus dem Küstenstreifen vor. Dem liegt die Absicht zugrunde, einen effizienteren Einsatz von Ressourcen und eine Bündelung der Kräfte für das besetzte Westjordanland zu erreichen. Sharon stösst anfangs auf heftigen Widerstand, nicht nur der Gaza-Siedler, ebenso vieler Israelis – doch er setzt sich durch. Ab Anfang August 2005 werden die Kibbuzim im Gazastreifen geräumt, Siedler teils gewaltsam evakuiert. Danach ist die Region formal autonom, aber wird vollends blockiert. Als die Hamas 2006 die Wahl zum Palästinensischen Legislativrat gewinnt und ab 2007 Gaza allein regiert, ist über die israelischen Grenzübergänge nur noch die Einfuhr von Grundnahrungsmitteln und Medikamenten erlaubt. Ein freier Personenverkehr wird unterbunden. Die Folge dieser Blockade und Isolation sind insgesamt vier Gaza-Kriege, die zwischen der Hamas und deren Verbündeten sowie Israel von Dezember 2008 bis April 2021 geführt werden.


Übrigens entlehnt das fiktive Land auf dem Boden der USA seinen Namen einer biblischen Region. In echt befindet sich Gilead im heutigen Jordanien an der Grenze zu Israel und Syrien, östlich des Jordans und südlich der heute von Israel besetzen Golanhöhen.



Val de Travers, Neuchâtel


Zwei Tage nach dem 30. Jahrestags des Attentats auf Izchak Rabin betrachte ich in der Zentralschweiz ein Bild eines Schweizer Grenzgebiets im Kanton Neuenburg. Das Bourbaki Panorama Luzern zeigt eine Szene im winterlichen Val de Travers 1871 – im zu Ende gehenden Deutsch-Französischen Krieg.


Damals überschritten innert drei Tagen über 87‘000 geschwächte Soldaten der französischen Ost-Armee bei Les Verrières, St. Croix, Vallorbe und Ballaigues die Schweizer Grenze. Als nicht Krieg führendes neutrales Land konnte die Schweiz die Bourbaki-Armee bis zum Ende des Konflikts internieren. Nach der Entwaffnung wurden die Soldaten durch die Zivilbevölkerung verpflegt und medizinisch versorgt und in 188 Schweizer Gemeinden untergebracht.



Die Bourbaki-Geschichte hat was Heroisirendes, nur schon weil sie berührt. Unweit des Panoramabildes heroisiert das Löwendenkmal noch mehr. Es erinnert mit einem sterbenden Löwen an einen in Paris gefallenen Schweizer Gardisten, eigentlich aber an das Söldnerwesen, dem die Französischen Revolution ein finale Grenze setzte.


Der Verkauf von Schweizer Männern für fremde Kriege begann 1515, als sich die Eidgenossen mit der Niederlage in Marignano von ihren Expansions-Plänen verabschiedete. Dann wurden die zuvor als Soldaten für eigene Kriege benutzten Bauernsöhne frei, um in fremden Kriegen zu kämpfen. Sie waren ein regelrechter Exportschlager. Für die meisten von ihnen bedeutete es Trauma, Heimweh und Tod. Ein Drittel der jungen Männer kehrte nie zurück. Besser erging es nur wenigen, wie zum Beispiel Kaspar Freuler, Gardehauptmann und Oberst des Schweizerischen Garderegiments. In seinem Heimatort Näfels liess er seinen eigenen Herrschaftssitz bauen, den Freulerpalast. Schlussendlich erlag er in Frankreich einer Kriegsverletzung.


Grenzenlosigkeit


Gut möglich, dass Eisbär diesen Beitrag grenzenlos weiterführt. Für den Moment ist die Grenze des Möglichen erreicht.

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