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Was war das?

Die Briefwechsel-Pause hat ein Ende. Sie hatte einen Grund – oder zwei, vielleicht auch drei. Jedenfalls sind meine Gedanken nun in Worten und Zeilen an Oliver parat.


Lieber Oliver


Ursprünglich wollte ich diesem Brief den Titel «trügerischer Frieden» geben. Das war Anfang Februar, kurz nach deinem Brief an mich. In dieser Zeit begann in der Ukraine, was für die eine Welt Krieg ist und in der anderen Welt nicht so genannt werden darf. Der gemeinsame Nenner: Frieden ist es nicht.



Dieser Krieg ist aber nicht der Grund für die Funkstille. Im Gegenteil: Schliesslich verdrängte unsere Beschäftigung mit ihm die Diskussion darüber, was die Menschen vorher verängstigte. Alleine darüber hätte sich mehr als ein Brief schreiben lassen.


In letzter Zeit war es mir ganz recht, mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Ich stellte mich der Wahl als Landrat. So heisst das 60-köpfige Parlament des Kantons Glarus. Als bester Nicht-Gewählter der SP in meiner Gemeinde bin ich recht zufrieden mit meinem ersten Anlauf.


Vor allem bin ich meinen Genossinnen und Genossen nähergekommen. Gerade fühle ich mich sehr wohl in diesem Umfeld, zumindest auf der überschaubaren lokalen Ebene. Es gibt viele gute Menschen darunter. Der gegenseitige Respekt tut mir gut.



Du fragst mich nach einer Idee, um deine innewohnende Liebe pflegen und entwicklen zu können, ohne zu verbittern und zynisch zu werden. Ich habe den Eindruck, du machst diese Gratwanderung allein dadurch, indem du dir und mir diese Frage stellst.


Mir geht es gleich: Ich möchte eigentlich nur, dass es den Menschen gut geht. Dann geht es auch mir gut. Funktioniert das auch umgekehrt – also wenn es mir gut geht, geht es den anderen auch gut? Manche meiner Berater:innen geben mir diesen Tipp immer wieder auf den Weg.


Damit es den Menschen wirklich gut geht, braucht es gegenseitigen Respekt. Dazu gehören auch die Haltung und der Anstand, nicht einfach dem trügerischen Frieden zuliebe ruhig zu bleiben, wenn der Respekt auf der Strecke bleibt. Das passiert in schwierigen Zeiten meistens, weil die Angst herum geht: vor dem Tod, dem Wohlstandsverlust, der Veränderung, dem Ungewissen. Hinter der Kulisse der Angst kann sich die Gier nach Profit besonders ungestört entfalten.


Ich glaube, irgendwo zwischen Kulisse und Hintergrund bewegen sich die Menschen, die weder Angst haben noch profitieren wollen. In dieser Position unterwegs zu sein, kann in der Extremform bis zum Tod und zum Ende eines Lebens führen, das ohne dafür zu sterben nicht lebenswert gewesen wäre.



Jedenfalls hängt Respektlosigkeit mit Narzissmus zusammen. Gewisse narzisstische Züge können zwar hilfreich sein, um durchs Lebe zu kommen. Nehmen Eigenschaften wie Autoritätsanspruch, Selbstdarstellung und ausbeuterisches Verhalten aber überhand, wird das Ganze zum Problem.


Der Übergang vom nützlichen zum schädlichen Narzissmus ist fliessend. Er ensteht vermutlich in der Kindheit mit einem vernachlässigenden oder verwöhnenden Erziehungsstil. Ich habe das Gefühl, unser Zeitgeist macht ihn zudem massentauglich.


Krankhaften Narzisst:innen mangelt es an Empathie. Sie verschaffen sich auch gewaltsam Respekt – zum Beispiel in einem Netz aus Intrigen, mit extra lauten, grossen oder teuren Motorfahrzeugen, in einer kurzfristig profitorientierten Konzernleitung oder an der Spitze eines autoritären Staates.



Beim autoritären Staat ploppt natürlich der Ukraine-Krieg auf. Irgendwie habe ich zwar null Bock auf Gedanken darüber. Die Debatte verfällt schon wieder der Dynamik, warnende Stimmen umgehend zu diskreditieren. Weil aber mal wieder alles zusammenhängt, kann ich dem Krieg also nicht aus dem Weg gehen.


Einer dieser Zusammenhänge ist die Propaganda. Auch beim Ukraine-Krieg scheint es allgemein erwiesen zu sein, dass es sowas «bei uns» nicht gibt. Klar gibt es das. Und klar, macht das die russische Propaganda nicht besser.


«Propaganda gewöhnt die Öffentlichkeit an den Wandel und den Fortschritt», schreibt Edward Bernays (1891 bis 1995) noch relativ harmlos in seinem Buch über den Mechanismus. Du hast es mir vor Jahren inklusive Widmung geschenkt.



Ein anderer Zusammenhang ist die Überheblichkeit der Mächtigen im Grossen wie im Kleinen. Personen – Narzisst:innen halt – die gerade den Hebel irgendeiner Macht in der Hand haben und das für ihre Zwecke ausnutzen.


Ich kann deshalb nichts mit dem Bild anfangen, das nur den Herrscher und die Oligarchen Russlands als kranke Typen darstellt. Für mich sind sie einfach die Ausgeburt einer Überheblichkeit, die sich um den ganzen Globus schlingt und auf Menschen in allen möglichen Ländern zutrifft.


Und ich kann nichts damit anfangen, der Frage aus dem Weg zu gehen: Was war eigentlich in den letzten zwei Jahren los – was war das? Dabei fällt mir der Film ein, den wir zwischen unseren Briefen zusammen gesehen haben.


Unter anderem geht es bei iHuman darum, dass künstliche Intelligenz die Kontrolle über die Menschen übernimmt und ein nicht mehr umkehrbares, globales autoritäres System errichtet. Sie tut das aus Optimierungsgründen.


Die Daten, aus denen die künstliche Intelligenz ihre Massnahmen ableitet, stammen von marktmächtigen westlichen Datenunternehmen. Wirklich anders als der Plan von Russlands Herrscher und Oligarchen hört sich das nicht an.



Es gibt zum Glück auch erfrischendere Formen, der Frage «Was war das?» zu begegnen – zum Beispiel den serbischen Beitrag am Eurovision Song Contest vor zwei Wochen. Kontstrakta landete mit «in corpore sano» auf Platz fünf. Das Lied handelt davon, auf jeden Fall einen gesunden Körper zu haben und endet mit den Worten:


«Der Körper ist gesund, und was machen wir jetzt? Ein kranker Geist in einem gesunden Körper, eine traurige Seele in einem gesunden Körper, ein verzweifelter Geist in einem gesunden Körper, ein verängstigter Geist in einem gesunden Körper – was machen wir jetzt?»


In deinem Brief schreibst du, dass hinterfragende Menschen in Schubladen wie Verschwörungstheoretiker oder Rechtsextremisten gesteckt werden, um sich nicht mit dem Inhalt auseinandersetzen zu müssen.


Bezeichnenderweise machte das die russische Führung auch und begründete ihren Angriff mit der Entnazifizierung der Ukraine. Ebenfalls bezeichnenderweise fand ich im WOZ-Artikel von Maria Stepanova die Erklärung zu diesem Verhalten: «Nenne deinen Gegner einen Nazi – und alle Mittel sind erklärbar und gerechtfertigt.»


Und jetzt stelle man sich mal vor, wie dieser Satz im Kontext der Corona-Krise wirkt. Jedenfalls gibt es inzwischen die Schublade «Putinversteher». Ihr Zweck, der inhaltlichen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, ist der gleiche. Umso wichtiger bleibt es, dem Wie unseres Denkens – statt nur dem Was – mehr Beachtung zu schenken.



Zu diesem Wie-Denken gehört zum Beispiel die Unterscheidung zwischen diskussionsverweigerndem und debattenfördernem Whataboutism. Anne Spiegel und Andreas Scheuer schreiben auf Zündfunk dazu:


«Wenn Deutschland zum Beispiel debattiert, wie es zukünftig auf Kriege imperialistischer Grossmächte reagiert, kann auch ein whataboutistischer Vergleich mit dem Irak-Krieg hilfreich für die Debatte sein. Schliesslich werden so nicht Putins Kriegsverbrechen relativiert.»


So offensichtlich uns Krieg, Pandemie, sowieso Klimawandel und Menschen auf der Flucht vor Augen führen, dass unser System einen zerstörerischen Weg für die Meisten wählt, um den Machthunger der Wenigsten zu befriedigen, so konsequent bleibt es still darum, worum es logischerweise gehen sollte – halt um den Systemchange.


Laut aber wird immer noch mehr Zerstörung propagiert – zum Beispiel durch Antworten auf die Energieknappheit mit Atomkraft oder Benzingutscheinen. Sowieso geht es um Schuldige, sicher nicht um Ursachen und schon gar nicht um die Frage, wofür wir die knappe Energie am dringendsten brauchen – zum Beispiel eher, um überlebenswichtige Nahrung zu erhalten oder eher, um unbegrenzt im Privatwagen herumzufahren?


Es ist wirklich nicht einfach, die innewohnende Liebe zu pflegen und entwickeln, ohne der Verbitterung und dem Zynismus zu verfallen. Darum lache ich dich zum Schluss dieses Briefes etwas an. Das Bild hat neulich ein Fotograf geschossen, der mit uns vor über 20 Jahren seinen Betriebsökonomen machte.



Liebe Grüsse

Werner

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