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Ein Sommer zum Loslassen

Ein Jahr lang Sommer – manche wünschen sich das vielleicht. Für die Natur wäre es fatal. Für den Menschen als Teil von ihr auch. Mir ist es passiert und heute ist ein guter Tag für den Versuch, den Sommer loszulassen.


Keine Ahnung, ob es mir gelingt. Vergessen will ich den Sommer zum Festhalten schon mal nicht. Und alles gut wird auch nach dem Loslassen noch nicht sein – wo kämen wir denn da hin? Ein guter Tag ist heute, weil es der 95. Geburtstag meines Vaters ist. Er konnte 65 Mal Geburstag feiern. Heute feiere ich mit Dädi, wohin mich das auch immer treibt.



Die goldenen Zwanziger


Zuest treibt es mich zurück nach 1928. In diesem Jahr kam Dädi als letztes von 14 Kindern zu Welt. In diesem Jahr fanden in der Schweiz Olympische Winterspiele statt. Im Jahr nach diesem Jahr endeten die Goldenen Zwanziger Jahre mit der Weltwirtschaftskrise.


1928 kamen auch der Unternehmer Nicolas Hayek, der Theologe Hans Küng und der Schauspieler Peter Arens zur Welt. Walt Disney erfand Micky Mouse und es erschien der Anti-Kriegsroman «Im Westen nichts Neues».


1928 lebten zwei Milliarden Menschen auf der Erde. Viele von ihnen durchdrang im wirtschaftlichen Aufschwung seit 1923 ein beschwingtes Lebensgefühl. Nach dem Ersten Weltkrieg boten Tanzlokale und Kinosäle eine Flucht aus der Realität. In dieser Zeit spielt die TV-Serie Babylon Berlin.



Alles ist Vergangenheit


So kann es nicht weitergehen mit diesem Beitrag. Das ist alles Vergangenheit. Das ist auch mit dem Tod meines Vaters so. Und es waren lange Jahre, bis er viereinhalb Monate vor seinem 66. Geburtstag 1994 starb. Trotz dieser Jahre kam es mir plötzlich vor. Alleine im gelben Golf fahrend, schrie in dieser Nacht die Erlösung aus mir heraus.


Alles muss fallen, fallen irgendwann. Ja alles kommt am Boden an. Alles muss fallen, fallen mit der Zeit. Und du fällst hinab und schreist. aus dem Lied Alles ist Vergangenheit von Yukno

Seine Erlösung führte zu neuem Schmerz bei den Überlebenden. Zum Beispiel hatte ich ihm nie von meiner Homosexualität erzählt. Seine Krankheit hatte für meine Familie Vorrang – so sagte ich es mir – und meine Extravaganz hatte darin keinen Platz – so sagte ich es mir auch. Kurz nach seinem Tod war mein Coming-out unaufhaltsam. Das Gefühl der Befreiung war stärker, als die Angst vor dem Ungewissen.


Auch mein Vater machte sich auf den Weg in's Ungewisse. Er ging nicht gern und wir liessen ihn nicht gern gehen. Ich erinnere mich an zwei Momente, in denen er mir mit seinem Flackern in den Augen sehr nahe war. Es waren traurige und verzweifelte Augenblicke, aber sie waren auch von Liebe erfüllt, wie ich sie vorher von ihm und zu ihm nicht kannte.



Nichts ist vergleichbar


Sein Flackern lässt die Liebe zu ihm bis heute brennen. Lange war sie von Traurigkeit geprägt, als ob die Freude an ihr nicht erlaubt wäre. Vom Leiden unter dem Verlust ist noch was übrig. Vielleicht gelingt es mir, ihm zu seinem 95. Geburtstag das Geschenk zu machen, den Restschmerz vergehen zu lassen.


Denn auch so kann es nicht weitergehen mit diesem Beitrag. Dädi hat mir mehr als Traurigkeit hinterlassen. Schon im Aussen haben wir viel gemeinsam: Wir sind die einzigen Männer in unserer Familie, tragen den gleichen Namen und haben den gleichen Bauch. Im Innen vertrauen wir beide auf das Gute in den Menschen und sind dadurch erfahren mit Enttäuschungen.


Während ich mich durch seinen Tod an einen gewissen Umgang mit Schmerz und Verlust gewöhnte, begegnete ich lebendig seinem Schalk und Humor. Er war ein bodenständiger Arbeiter, ein aktiver politischer Mensch und ein gemütlicher Typ, wenn er sich von beidem erholte. Er kandidierte erfolglos für die SP als Schwyzer Kantonsrat und engagierte sich unermüdlich für die Gerechtigkeit in der Gewerkschaft.


Wir tragen den gleichen Namen und teilen die gleiche Freude.

Du hast mein Feuer entfacht für das Vertrauen in die Liebe, für das Gute in den Menschen.

Ich muss dich nicht vergessen, um dich gehen zu lassen.

Du bist mein einziger Vater. Ich bin dein einziger Sohn.


für Werner von Werner



Wunder Punkt


An dieser Stelle könnte ich aufhören. An dieser Stelle ist mein wunder Punkt. Aufhören wäre also nicht gut. Es ist schwierig zu beschreiben, was er mit meinem Vater zu tun hat. Aber er hat etwas mit meinem Gedenken an ihn zu tun.


Es ist mein Umgang mit relevanter Ablehnung. Relevant ist sie für mich in meiner intimsten Form der Liebe – wenn sie mich also persönlich trifft (unabhängig davon, ob es persönlich gemeint ist) und ich mich machtlos fühle (weil mir klar ist, dass sich Liebe nicht erzwingen lässt).


Mitten in einer solchen Verletzung wandle ich mich zur Furie. Die hilft mir zwar beim gesellschaftlichen Engagement durchaus. Nicht von ungefähr heisst dieser Blog dreizehnte Fee. Auch sie verkackt aber die Liebe mit ihrer Wut und braucht enorm viel Kraft und Überwindung, es wieder gut zu machen. Und das muss sie, weil sie von Liebe erfüllt ist.


Auch die musikalische Begleiterin dieses Beitrags steht für Ablehnung. Am 16. Oktober 1992 buht sie das Publikum im Madison Square Garden wegen ihrer Kritik an der katholischen Kirche aus. Sie stoppt das Spiel der Band, will das Mirkofon lauter stellen, sich nicht unterkriegen lassen, auch nicht verbiegen. Am Ende des Auftritts fällt sie erschöpft in Kris Kristoffersons Arme.



Ich will für etwas stehen, ich will mich sehen, ich will in Liebe vergehen. aus dem Lied Vergehen von Yukno

Die Jahre nach diesem Auftritt stürzt Irlands katholische Kiche in eine tiefe Krise. Grund dafür sind die Missbrauchsskandale, auf die Sinéad O'Connor hingewiesen hat, und für die sie das Publikum ausgebuht, abgelehnt und verlassen hat. Ihr einziger Freund beim Auftritt von 1992 widmet ihr den Song «Sister Sinéad».


Sie hat es also alles andere als verkackt. Ihre Geschichte ist geprägt von sexuellem Missbrauch im Elternhaus. In meiner Geschichte kommt das nicht vor – loslassen sollte mir also deutlich leichter fallen als ihr. In den Tagen, während ich diesen Beitrag schreibe, stirbt Sinéad O'Connor.


Fluch der Sehnsucht


Manchmal behaupte ich, dass ich nicht alt werde, genau wie mein Vater. Damit begründe ich gerne meine Ungeduld in Liebesangelegenheiten. Manchmal behaupte ich weiter, dass ich die Liebe immer packe, ob die Zeit nun gerade passt oder nicht – weil man schliesslich nie weiss, wann es zu spät ist (oder, wie lange man noch lebt). Dass andere Menschen um mich herum und letzte Woche auch Sinéad O'Connor noch jünger als mein Vater gestorben sind, ist Wasser auf diese Mühle.


Entweder erhalte ich darauf schweigendes Verständnis oder abwinkenden Widerstand. Beides hilft mir in solchen Momenten nicht – und Hilfe brauche ich, wenn ich mich abgelehnt fühle und meine Furie mit der Endlichkeit des Lebens begründe.



Wie ein Mängelexemplar liege ich schon wieder da. Ich gebe mich zu günstig her für einen Mangel, um den manch anderer glücklich wär. aus dem Lied «Mängelexemplar» von Oehl

Zwar fühle ich mich selten relevant abgelehnt, aber es kommt immer mal wieder vor. Abgesehen davon bin ich eigentlich recht geübt in irrelevanter Ablehnung, die einem in der Schwulenszene schon von jung auf und in der Politik sowieso entgegenschlägt.


Wenn es mir trotzdem passiert, begegne ich meinen narzisstischen Zügen, die ich zwar selbst ablehne, dann aber zu Tage treten. Nicht zwingend nur bei mir, manchmal auch – zumindest in meiner Wahrnehmung – beim Gegenüber. Meistens ist sogar was dran, aber genauso meistens hat es weder mit mir und noch mit krankhaftem Narzissmus zu tun.


Es hat erst dann mit mir zu tun, wenn ich zur Furie werde und um Mitgefühl buhle – entweder mittels einer besonders schwachen oder besonders starken Darstellung von ihr. In beiden Fällen kann das Angst machen und dem Vertrauen schaden – ein Teufelskreis, in den ich lieber gar nicht erst geraten würde.


Immerhin weiss ich inzwischen: Wenn die Furie auftritt, sind der Mut zur Liebe in Richtung Angst vor ihr, der Wunsch nach Sicherheit in Richtung Kontrolle und die Offenheit für die Zukunft in Richtung Verbissenheit abgebogen. Auf diesem Weg nehme ich gerne mal die nächste Ablenkung, um der Verzweiflung aus dem Weg zu gehen. Dabei ist es eigentlich klar, den Abzweiger zur Zuversicht und Geduld abwarten zu müssen.


Beides braucht es für die Liebe und dafür, was ich mir von ihr manchmal wünsche: Eine Umarmung und einen Kuss von den Menschen, mit denen ich dank meinem Hang zur Liebe verschmelzen möchte.



Mit Freude loslassen


Loslassen ist eigentlich recht leicht. Es tatsächlich zu tun, scheint manchmal trotzdem schwer. Was Dädi angeht, gibt es keinen Grund, es nicht zu tun. Ich weiss, dass ich keine Angst haben muss, meine Liebe zu ihm zu verlieren.


Vielleicht ist es sogar einfacher, diese Liebe zu gestalten, als diejenige zwischen Lebenden. Zwar findet auch dann die Liebe im Selbst statt, entwickelt sich aber im Wechselspiel mit der Liebe der anderen Person. Ihr Zustand ist die Energie, die sich gegenseitig übertragen lässt. Am besten ist die Liebe also gesund. Das ist sie, wenn man an ihr Freude hat, statt ihretwegen traurig oder ängstlich ist.


Und jetzt schaumermal, ob das alles nicht nur im Kopf, sondern auch im ganzen Sein ankommt.


Jedem Anfang ein Ende, so halten wir unsere Hände. Denn in dieser Höhe keine Wände, keine Ziele, kein Geländer. Jedem Anfang ein Ende, so halten wir diese Hände. Und das Ende ist immer näher als jeher zuvor. aus dem Lied «Satt werden» von Oehl

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