24 Stunden vor Beginn des schweizerischen Nationalfeiertags ist der richtige Zeitpunkt, um Oliver zu schreiben. Ich habe es ihm versprochen – quasi geschworen.
Lieber Oliver
Acht ganze Monate sind seit deinem Brief an mich vergangen. Ich hätte schwören können, dass es weniger sind. Dass dein Brief so lange unbeanwortet bleiben konnte, ohne dich zu verlieren, kann nur an der Verbundenheit der Freundschaft und Liebe liegen.
Nach unserem neulichenTreffen las ich Mit meinen Idealen in Berührung wieder. Der Kontext mochte im November ein anderer sein. Die Gedanken dazu sind gerade jetzt für mich sehr aktuell.
Wir unterhielten uns unter anderem über Politik. Und ich stellte wiedermal fest, dass du noch politischer bist als ich. Vielleicht auch nur anders, aber irgendwie politischer. Es war sogar sowas wie Streiten, weil mir nicht alles gefiel, was du sagtest. Und vermutlich auch umgekehrt. Was mir aber gefiel: Wir blieben beieinander – wow!
Im Nachhinein weiss ich, dass du was bei mir angesprochen hast, das ich gerade umgehe. Oder wie du es nennst in deinem letzten Brief: fliehen vor einer komplizierten Situation. Ein paar Tage später wähnte ich mich mit meiner Ärztin in der gleichen Situation.
Ich weiss (noch) nicht, worum es genau geht, aber es hat mit meinem politischen Weg zu tun. Dabei habe ich doch Ende Juni im Landrat des Kantons Glarus geschworen, ihn zu gehen (so wahr mir Gott helfe). Und die ganze Zeit vorher war ich mir (meistens) sicher. Ohnehin war ich schon längst auf diesem Weg.
Übrigens hätte ich auch geloben können. Das ist die weltliche Variante der Vereidigung im Amt. Weil mich mein Heimatort Einsiedeln unzimperlich gemacht hat, was solche Rituale angeht, entscheid ich mich fürs Schwören.
Randnotiz
Einsiedeln war wegen eines Grenzstreits die Ursache für die Schlacht am Morgarten. Die Schwyzer besetzten Einsiedler Land, plünderten das Kloster, schändeten die Kirche und nahmen Mönche in Geiselhaft. Schirmherr über das Kloster war Habsburg. 1315 bestelte Herzog Leopold im Aargau sein Heer. Die Eidgenossen gewannen dank ihrer neuartigen Waffen, den Helebarden, die Schlacht. Vermutlich starben 1500 bis 2000 Menschen dabei.
Der geschwörte Eid kam recht gut an: Eine Handvoll Ratskollegen gestanden mir ihre Freude über meinen Schwurentscheid. Ich fragte mich deshalb, ob ich es tat, um gut anzukommen. Der Antwort darauf ging ich im Juli aus dem Weg, obwohl sie einfach ist: Ich habe geschworen, weil ich an Gott glaube. Weil aber meine Kirche etwas zimperlich auf Homosexualität reagiert(e), wollte ich da nicht mehr mitmachen. So redete ich es mir ein und trat trotzdem nicht aus.
Die Enttäuschung über diesen Betrug an meiner Jugend im Stiftschor löste viel später ein Gläubikeitsschub ab – nachdem ich die wirkliche Enttäuschung erkannte und meine Kirche endliche verliess: Ich hörte den damaligen Papst im Fernsehen sagen, man soll sich Gott nicht selbst vorstellen. Danach war bei mir Feierabend.
Kaum ausgetreten, knöpfte ich mir mal wieder meine Vorstellung über Gott vor. Ich ging eigentlich immer davon aus, dass es auch die Idee der Kirche war, Gott in sich selbst und in anderen zu finden. Mensch verspeist seinen Leib schliesslich in der heiligen Messe. Deshalb war für mich schon früh klar: Gott ist die Liebe und (m)eine Lebensaufgabe wird wohl sein, der Liebe – auch zu sich selbst – zu begegnen.
Randnotiz
Dazu hast du im November geschrieben: «Doch, soweit ich weiss, gehen alle spirituellen Traditionen davon aus, dass jeder einzelne Mensch Ausdruck des Göttlichen ist, unser Leben auf einem Funken eines göttlichen, übergeordneten, unergründbaren Lebens- und Liebesprinzips gründet.»
Die Begegnung mit dir hat also eine Glaubensfrage bei mir ausgelöst; das in den Raum gestellt, dem ich aus dem Weg gehe und was im Juli zu (bekannten) körperlichen Schmerzen führte – ich nenne sie manchmal auch meine Alarmanlage. Weder du noch meine Ärztin stellten mir die Frage zwar wörtlich, aber sie beschäftigt mich seit den Gesprächen mit euch: Wieso mache ich Politik?
Beide Gespräche (oder Trancezustände) katapultierten mich im Reflex in den Verteidigungsmodus für meinen politischen Weg. Während es mich bei dir ärgerte, dass du sehr politisch, aber in keiner Partei bist und die SP kritisierst, ärgerten mich die Feststellungen meiner Ärztin, nicht Politik machen zu müssen, wenn ich dabei Schmerzen kriege, oder weil mein toter Vater (der heute Geburtstag hat) sich darüber gefreut hätte.
Wieso ich Politik mache, kann ich tatsächlich gerade nicht aus voller Überzeugung beantworten. Ich will es aber aus Liebe machen. Ich spüre, dass mich (wie beim Glauben) ein Gefühl begleitet, das im Grunde gut ist für mich und an dem ich manchmal (oft) zweifle. Meine Partei stellt mir zur Zweifelreduktion durchaus angenehme Leitplanken.
In unserem Gespräch ging es auch um die Verschwörungskeule. Sie war im Informationskrieg der Corona-Zeit bei vielen Medien auffällig en vogue. Damals begannen wir uns hier Briefe zu schreiben. Ich weiss und verstehe, dass dir das damalige Verhalten der SP nicht gefiel; mir gefiel es auch nicht. Doch die SP ist meine politische Heimat, die ich nicht verlassen will, weil sie mich enttäuscht hat. Ich will bleiben, weil innerhalb ihrer Leitplanken genug Raum für meine Entfaltung ist.
Auf diesem Weg geht es schon auch um die Liebe – zu Menschen, die zum Beispiel auf Kantons- und Gemeindebne gemeinsam alles geben, auch wenn sie «auf dem Land» nur wenige sind. Oder wenn ich an einem nationalen Parteitag die Begrüssung «liebe SP-Familie» nicht nur höre, sondern für einen kurzen Augenblick zu Tränen gerührt bin aus lauter Verbundenheit mit viel mehr Menschen, als es mir manchmal bewusst ist.
Vielleicht ist das schon die Antwort auf die Frage, die du mir gar nicht gestellt hast: Wieso mache ich Politik? Vermutlich gibt es mehere Antworten – Multiple Choice. Eine könnte lauten: Ich mache Politik, weil ich es kann. Diese Anwort gab ich mir auch bei der Corona-Impfung. Ob ich damit richtig stand und stehe, sehe ich, wenn das Licht angeht.
Wahrscheinlich reichen Liebe und Können nicht, um meine Politik ohne Schmerzen zu betreiben. Was ich noch brauche, gilt es wohl herauszufinden. Dazu werde ich das eine oder andere ausprobieren, mich ab und zu in Szene setzen, mir dabei treu bleiben und mir immer wieder die Frage stellen: Wieso mache ich Politik?
Das Amt als Landrat der SP Glarus und meine Stelle als Sekretär der SP60+ geben mir erst seit Kurzem neue Instrumente in die Hand, die ich nun kennenlernen kann, ohne mich beim Spielen zu verlieren.
Also dann schwöre ich mal: Ich mache, was ich kann, auch wenn es Fehler darunter hat, möglichst auf der Basis der Liebe – und, so wahr mir Gott helfe, lüge ich mich dabei nicht selbst an.
Randnotiz
Das Jugendwort «Vallah» oder «Wallah» stammt aus dem Arabischen und bedeutet «Ich schwöre» oder «Ich schwöre bei Gott». In einem Satz verwendet, zeigt es, dass eine Aussage sehr ernst gemeint und glaubwürdig ist. «Wallah» heisst auch ein dreisprachiger Song des italienischen Rappers Ghali.
«Nach zwei Jahren habe ich das Bedürfnis, die Leute wieder zum Tanzen zu bringen. Musik und Tanzen sind Dinge, die die Menschen brauchen, um sich gut zu fühlen, und ich denke, dass die Last dieser zwei Jahre auf der psychischen Gesundheit der Menschen langsam spürbar wird. Wir müssen die Bedeutung der Unbeschwertheit bekräftigen, und ich wünsche mir, dass wir sehr bald wieder zusammen tanzen können.» Ghali über sein Lied Whalla (2021)
Liebe Grüsse
Werner
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